Donnerstag, 9. Dezember 2004

Telefongespräch

Vorlage für
Telefonat mit dem Tod


Als Einstieg:

Dringlingling... Klick!
„Zum Geburtstag viel Glück. Zum Geburtstag viel Glück. Zum Geburtstag dir ...
Oh, ich habe deinen Namen vergessen.“
„Wer sind Sie?“
„Ah, danke. Zum Geburtstag dir, Wer-sind-sie. Zum Geburtstag viel Glück.
Alles Gute zum 31. Geburtstag!“
„Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Ich habe nicht...“
„Halt den Mund! Heute ist dein 24. Geburtstag.
Also ... ich habe ein Geschenk für dich. Was ist dir lieber? Schmerzen zuzufügen oder sie zu erleiden?
Du kannst das haben, was du am meisten hasst. Hi hi hi...
Alles Gute zum Geburtstag!“
Klack!
(Silent Hill 3)


Letztens habe ich ein interessantes Gespräch geführt.
Sie kennen diese Art von interessanten Gesprächen, die sich die ganze Zeit nur um ein Thema drehen, wobei beide Parteien entweder derselben Meinung sind und sich in ihrer Übereinkunft gar nicht genug bestätigen können oder wo besagte Parteien gegensätzlicher Meinung sind, diese jedoch nicht auf Falschheit zurückzuführen ist. Es geht also um Geschmack und Ansichten.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Es soll tatsächlich Leute geben, die diesen Aphorismus ernst nehmen. Offensichtlich war die geschätzte Persönlichkeit jenes Geistesblitzes, insofern sie überhaupt existierte, ein Scherzkeks, wie für alle Beteiligten zu erkennen sein sollte. Geschmack ist eines der wenigen Themen, die man am ausführlichsten, kaum schöner ausgeschmückt und belegt, als Streitpunkt verwenden kann. Mit Verlaub, die eigenen Ansichten vertreten viele Menschen in intensivster Weise – ein professioneller Regentanz ist nichts dagegen. Gesprächsstoff geht nie aus, solange man um den eigenen Brei tanzen kann, ist es nicht so?
Ein einfaches Beispiel: Was haben Sie bis jetzt in diesem Bericht, von meiner Wenigkeit erzählt, gelernt beziehungsweise erfahren? Natürlich nichts. Allein vom eigenen Hauptgedanken abzuweichen ist eine Sache, die wohl nicht einfacher zu bewerkstelligen wäre, erst recht, wenn sich plötzlich die Prioritäten verschieben. Sehen Sie, was ich meine? In meinem ungeheuren Wortschwall ist es Ihnen gar nicht möglich, zu Wort zu kommen. Dabei habe ich mit meiner eigentlichen Erzählung noch gar nicht angefangen. Ich führe momentan quasi einen monologischen Dialog.
Und hier wären wir also bei meinem persönlichen Hauptgedanken: Gespräche.
Gespräche werden erst richtig interessant, wenn man den Partner dabei beobachten kann, seine Mimik, Gestik, ganz wichtig sind die Augen. Aber das wissen Sie sicher alles selbst. Außerdem sollen diese Einflüsse bei dem von mir geführten Gespräch ausgeblendet sein.
Es ist nämlich so, dass ich telefonierte.
Um auf den Punkt zu kommen: Ich telefonierte mit dem Tod.
Nichts Neues, denken sie jetzt sicher. Wieder ein Klischee, das im Grunde jeder vollzieht oder zumindest kennt. Nun, für mich war es durchaus etwas Neues. Ich hätte gehofft, diese bereichernde Erfahrung zu machen, bevor ich sterbe. Allerdings war es nach meiner Geburt schon zu spät. Sie kennen das – man stirbt sein ganzes Leben vor sich hin. Und irgendwann klingelt das Telefon, sie gehen ran und eine tiefe Stimme sagt zu Ihnen:
„Sie sind tot.“
Humbug, sicher doch. Aber anders könnte es doch gar nicht sein. Es wäre schön gewesen, hätte mich der Tod angerufen, um mir den Unterschied zwischen dem Sterben und dem Tod zu erklären. Hierbei hat er mich allerdings ausgespart.
Was blieb mir also Anderes übrig, als mich in mein Grab zu legen und anzurufen? Somit ist auch das 'Wo' geklärt: Ich lag in meinem Grab und telefonierte mit dem Tod.
Sie fragen sich, was dabei herauskam? Ich mich auch, das können sie mir glauben. Ich verweise auf den ersten Absatz – Tod und ich waren eindeutig nicht derselben Meinung. Worum es ging, spielt keine Rolle. Jedenfalls legte er kurze Zeit später wieder auf.
„Schlafen Sie jetzt. Sie sind tot.“
Logischerweise war ich erregt, wütend über so viel Unverfrorenheit. Warum hatte der Tod mich nicht angerufen, wenn mein Sterben nun endlich ein Ende hatte. Es hatte eindeutig kein Ende und ich wollte gerechterweise meinen Tod haben, den ich mir nicht nehmen ließ, nur wegen eines verpassten Telefonanrufes. Wenigstens Rache wollte ich. Eine sympathische Eigenschaft des Menschen: bekommt er seine Rache, dann geht es ihm wieder gut und alles scheint vergessen.
Am anderen Ende klingelte es. Tod nahm ab:
„Ja?“
„Sie sind tot“, versuchte ich.
„Ja, ich bin Tod.“
„Nein, Sie sind nicht Tod, Sie sind tot“, versuchte ich es weiter.
„Logischerweise.“
„Müssten Sie dann nicht an meiner Stelle hier liegen?“
„Warum rufen Sie mich zweimal an?“
Dass der Tod dazu neigt, auf Fragen immer Gegenfragen zu stellen, konnte ich mir schon denken. Also antwortete ich.
„Weil Sie es nicht getan haben.“
„Ich muss Sie doch nicht anrufen, damit Sie wissen, dass sie tot sind.“
„Ich dachte, sie seien Tod.“
„Ich bin beides.“
Der Tod seufzte, bevor er fortfuhr.
„Also, gut. So geht es auch.“
Jetzt merkte ich, dass ich gleichgültig wurde. Sie können mit Sicherheit erraten, was geschah: Ich hörte auf zu sterben.
Den Bruchteil einer Sekunde implodierten meine Gedanken, welche sie hier lesen konnten. Es ging (und geht Ihnen wahrscheinlich soeben) viel zu überstürzt. Warum das Wichtigste – das eigentliche Gespräch – weggelassen wurde, werden Sie selbst erfahren. Bei Ihrem eigenen Telefongespräch mit dem Tod.
Gute Nacht und auf Wiederhören.

Dienstag, 7. Dezember 2004

Performance im Literaturcafé

Vorlage für den Einzelteil
Querschläger


Zu der schulischen Projektwoche, die gänzlich von den Schülern geleitet wurde, war ich 2003 in einer Gruppe von vier Personen. Eigentlich eindeutig zu wenig Leute, aber in unserem selbsternannten Literaturcafé war diese Anzahl perfekt, wobei der krönende Abschluss aus einer inszenierten Performance bestand.
Stellt euch also vor, ihr betretet das Klassenzimmer zu einer von zwei Vorstellungen, da ihr durch das Schild an der Tür neugierig geworden seid: Eintritt erst ab 16. Nur ein Tisch steht in dem Raum, die Mitte ist mit Decken ausgelegt und ihr werdet gebeten, eure Schuhe auszuziehen, bevor ihr euch auf den Decken niederlasst.
Noch herrscht reges Geschwätz unter den Anwesenden. Manche schauen sich zögernd um und betrachten die vielen weißen Laken, die über Tisch und Stühle gelegt sind. Ein Fernseher steht in der einen Ecke, ein Projektor in der anderen, auf der gegenüberliegenden Seite sind zwei riesige weiße Plakate an Kartenständern aufgehängt, die die dahinter stehenden Schränke vollständig verdecken. Wo es nicht weiß ist, hängen unfertige Bilder, manche gezeichnet, einige primitiv gemalt, skizzenhaft, wie von Kinderhand.
Die Tür wird geschlossen. Ihr seht zu der Schülerin, welche ihr bis jetzt als einzige erkennen konntet, die etwas mit diesem Projekt zu tun hat. Sie ist völlig weiß geschminkt, geht an euch vorbei und stellt sich hinter den Fernseher auf einen Stuhl. Ihr seht sie an, doch sie beachtet euch nicht, sondern starrt nur weiter geradeaus.
Dann löscht sich das Licht. Einige neben euch erschrecken, ihr könnt sie nicht sehen und nehmt sie nur mit euren verschwommenen, sich langsam schärfenden Sinnen wahr. Man hört Kichern, leises Flüstern, das immer weiter verstummt, erstickt. Nach einer Minute herrscht Stille. Nichts passiert.
In der linken oberen Ecke erscheint plötzlich Licht. Eine Taschenlampe. Ein weißes Gesicht erscheint losgelöst über einem der Plakate in der linken, oberen Ecke, sieht auf euch hinab und sagt:
„Katzensex.“
Aus der rechten oberen Ecke miaut es, krächzend, verzerrt, kurz darauf faucht es hinter dem Fernseher, dann kreischt eine Katze in eurer Mitte. Die Laute klingen aus, das Gesicht in der linken Ecke redet weiter, erzählt euch, wie eine Katze vergewaltigt wird, wie deren Schreie durch den Nachmittag hallen, wie die Krallen des Katers sich in ihre Hüfte bohren, wie er tiefer in sie eindringt, je lauter sie schreit und wie er sie letztendlich liegen lässt. Das Licht der Taschenlampe erlischt.
Sogleich entzündet es sich hinter dem Fernseher. Ein Mädchen erzählt euch, wie sie unbeholfen mit ihrem Freund schlief, in einem heruntergefallenen Haus. Er grabschte hilflos an ihren Brüsten herum, verteilte seinen Speichel auf ihrem Hals und in ihrer Ohrmuschel, rieb sich an ihrem Körper, fummelte, sodass es ihr wehtat, schob seine Zunge in ihre Mundhöhle, saugte unbeholfen an ihren Lippen. Sie dachte daran, dass er stank und widerlich war. Er dachte vermutlich, dass er nicht wusste, was zu tun sei. Es war peinlich und sie hörten auf. Das Licht erlischt.
Das Klacken von Schuhen ist zu hören, als jemand, um die im Kreis sitzenden Leute geht, im Kreis, immer und immer wieder. Eine Taschenlampe geht an, man sieht die Person weiterlaufen. Sie redet mit fast besessener Stimme, belehrend, wie eine Mutter zu ihrem Kind, Geschichten von kullernden Augen, kullernd und kullernd. Von einer Massenseele in uns allen. Ihr schaut euch nicht um, als die Stimme direkt hinter euch ist, noch einmal, eindringlich, aufdringlich. Das Licht erlischt.
Ein Flüstern setzt ein.
„Das Monster“
Es flüstert von allen Seiten. Eine Stimme redet laut aus der rechten oberen Ecke, von dem Monster, in und um uns. Das Flüstern schwillt jedes Mal an, wenn die Stimme vor Angst von dem Monster schreit.
„Das Monster. Das Monster.“
Alles verstummt.
„Sich selbst.“
Der Projektor wird eingeschaltet und wirft sein Licht an die weiße Leinwand, verschwommen erscheint ein Bild, unscharf, ihr könnt es nicht erkennen.
„Bild eins.“
Eine präzise Erklärung folgt, man behandelt euch wie einen Studenten in einer Vorlesung. Nichts von dem Gesagten könnt ihr auf dem Bild sehen. Ihr könnt es euch nicht einmal bildlich vorstellen, was gesagt wird.
„Bild zwei.“
Die Prozedur wird fortgesetzt. Ein paar Farben, zusammengeklatscht, ohne etwas ausmachen zu können, vermischt auf einer weißen Leinwand.
„Bild drei.“
Die übergenaue Aussprache beginnt euch zu nerven, ein Sinn scheint nicht zu existieren.
„Bild vier.“
Ein neues Dia, vielleicht ein Mensch, vielleicht ein Berg, ein bisschen Sisyphos, ein wenig Meer. Doch endlich beendet der Lehrer den Unterricht. Projektor aus.
Der Fernseher wird eingeschaltet. Nur Schnee ist zu sehen. Eine beschuldigend lang gezogene Stimme mahnt euch. Auf einmal seid ihr ein kleines Mädchen, dass seine Puppe aus dem offenen Fenster eines Wagens geworfen hat, sodass sie nun auf dem weißen Mittelstreifen der Fahrbahn liegt, ihren nackten Hintern unter dem dreckigen Kleid in die Höhe gestreckt, hilflos, bald im Graben, bald vergessen. Von euch losgelassen, aus dem fahrenden Auto, ob beabsichtigt oder nicht.
„Wieso? Wieso hast du sie fallen lassen?“
Das Spiel geht weiter. Licht an, Licht aus. Kälte, Hass, Verzweiflung, Angst, Resignation. Alles in Form von sprachlichen Mitteln.
Die Deckenbeleuchtung geht an. Ihr reibt eure Augen. Um euch stehen die Leute auf, die mit euch dabei waren und dennoch alles ganz anders wahrnahmen als ihr selbst. Sehen diese Personen jetzt anders aus? Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht...
Vielleicht wärt ihr gern dabei gewesen. Möglicherweise als Zuschauer oder als Schauspieler, als Opfer oder als Täter, auf den Decken, hinter dem Fernseher, auf dem Schrank, mitten unter uns allen.
Das seid ihr. Tagtäglich.