Samstag, 25. April 2009

Alice, wer bist du denn dann?

Wie verquer doch heute alles geht! Und dabei war gestern noch alles wie gewöhnlich. Ob ich am Ende heute Nacht ausgewechselt worden bin? Also, wie steht es damit - war ich heute morgen beim Aufstehen noch dieselbe? Mir ist es doch fast, als wäre ich mir da ein wenig anders vorgekommen. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich denn dann?
Lewis Caroll

Dienstag, 21. April 2009

Luzifer - Träger des Lichts

Chronos ist die Zeit. Die Zeit ist aller Dinge Herrscher. Chronos ist das unentrinnbare Schicksal, überall und immer. Chronos weiß, wie das Universum enden wird, sieht seinen eigenen Abgang. Deinen. Meinen. Und tut nichts, als die Uhren am Ticken zu halten.
Im Himmel, der Raum der Uhren. Ein Raum, erfüllt vom Ticken. Die Wände, die Decke, der riesige Boden sind bedeckt mit Uhren, Sonnenuhren, Stundengläsern, Kerzen jeder Art... Wenn diese Uhren stillstehen, wird Chronos tot sein. Wenn sie gegen den Uhrzeigersinn zu laufen beginnen...
Wenn sie gegen den Uhrzeigersinn zu laufen beginnen, wird Uranos König sein. Und wenn sie völlig aufhören zu gehen, dann deshalb, weil wir alle auf einen einzigen Punkt der Existenz zusammengedrängt sein werden. Nicht lebendig, nicht tot, nur da. In Uranos. Für alle Ewigkeit.
Spürst du meinen Puls?
Das ist ein Zeichen des Lebens. Mit jedem Herzschlag zehre ich die Existenz von Chronos ein wenig weiter auf, stehle ein wenig von seinem Leben. Doch jedermann tut das, und das Leben der Zeit ist Tausend, Millionen, Milliarden Mal größer als das Universum. Aber wenn Uranos sich der Zeit bemächtigen würde, gäbe es keinen Pulsschlag mehr. So wie wir vom Leben der Zeit zehren, wenn das Herz in vollkommenem Rhythmus mit dem Takt der Uhren schlägt, so zehrt Uranos von unserem Leben. Er wird uns reduzieren auf den winzigsten Gedanken, den kleinsten Funken, den unsere Seelen hervorbringen können. Uranos ist das einzige Wesen im Universum, das nicht von der Zeit zehrt, sondern von jenem Teil des Universums, der zeitlos ist. Er ist Nicht-Leben, Nicht-Tod, er ist eine sehr, sehr einfache Art von Existenz; auf einen einzigen Punkt konzentriert, geht er nirgendwohin, verändert sich nie.
Es gibt Dinge, die außerhalb der Zeit liegen. Ideen sind zeitlos. Der menschliche Hass vor tausend Jahren ist derselbe wie der menschliche Hass heute. Dasselbe gilt für die Liebe. Dasselbe für das Mitgefühl. Für den Neid. Erinnerungen sind zeitlos - entweder man hat sie oder nicht. Uranos zehrt von diesen Erinnerungen, bis ihre Besitzer zu nichts geschrumpft sind. Uranos zehrt von diesen Ideen, bis alles, was bleibt, die nackten Knochen desjenigen sind, der diese Dinge fühlt. Wo Chronos das Leben und die Zukunft gibt, nimmt Uranos die Seele und die Vergangenheit und friert alles in sich ein. Unter Uranos gäbe es keinen Tod. Aber auch kein Leben.
Catherine Webb

Mittwoch, 8. April 2009

Die Leiden der Tugend

Das sollte die Hauptaufgabe der Philosophie sein: die Mittel und Wege zu erforschen, deren sich das Schicksal zur Erreichung seiner Ziele bedient. Daraus müsste sie dann Verhaltensmaßregeln für den armseligen Zweifüßler, Mensch genannt, herleiten, dass er auf seinem dornenvollen Pfade nicht immer abhängig sei von den bizarren Launen jener dunklen Macht, die man nacheinander Bestimmung, Gott, Vorsehung, Zufall getauft hat.
Wenn wir nun bei solchen Studien finden, dass die Bösen für ihre Missetaten Lohn statt Strafe ernten, werden da nicht Menschen, die von vornherein, aus Anlage oder Temperament, zum Bösen neigen, mit Recht schließen, es sei besser, sich dem Laster offen zu weihen, als ihm zu widerstreben - entgegen unseren lächerlichen, abergläubischen, unnützen Moralgesetzen? Werden sie nicht mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass die Tugend, wenn sie zu schwach ist, gegen das Laster anzukämpfen, gewiss nicht die Partei ist, zu der man sich schlagen soll, und dass man in einer so verderbten Zeit wie der unseren nichts Besseres tun kann, als so zu sein wie alle anderen?
Werden sie nicht aber vor allem sagen, dass, wenn Tugend und Laster gleichermaßen in den Absichten der Natur liegen und wir das Laster immer triumphieren, die Tugend immer unterliegen sehen, es klar zutage liegt, auf welcher Seite wir zu kämpfen haben?
Es wird Zeit, dass die Dummköpfe einmal aufhören, jenes Idol einer lächerlichen "Tugend" anzubeten, die ihnen nur mit Undank lohnt, und dass andererseits die Verständigen sich sicherer fühlen, wenn sie einmal deutlich sehen, wie Glück und Wohlfahrt dem Laster mit fast unumstößlicher Sicherheit folgt.
Marquis de Sade