Dienstag, 16. November 2010

Sehnsucht nach Glück

Was den Rest der ersten Lebenshälfte, also das jugendliche Alter, trübt, ja unglücklich macht, ist das Jagen nach Glück, in der festen Voraussetzung, es müsse im Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend getäuschte Hoffnung und aus dieser die Unzufriedenheit. Gaukelnde Bilder eines geträumten, unbestimmten Glückes schweben, unter kapriziös gewählten Gestalten, uns vor, und wir suchen vergebens ihr Urbild. Hierzu trägt freilich noch bei, dass meistens uns das Leben früher durch die Dichtung als durch die Wirklichkeit bekannt wird. Die von jener geschilderten Szenen prangen, im Morgenrot unserer eigenen Jugend, vor unserm Blick und nun peinigt uns die Sehnsucht, sie verwirklicht zu sehen - den Regenbogen zu fassen. So entsteht die Täuschung. Denn was allen jenen Bildern ihren Reiz verleiht, ist gerade dies, dass sie bloße Bilder und nicht wirklich sind und wir daher, bei ihrem Anschauen, uns in der Ruhe und Allgenugsamkeit des reinen Erkennens befinden. Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt werden, welches Wollen unausweichbare Schmerzen herbeiführt.
Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück, so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück. Denn mit ihr ist, mehr oder weniger deutlich, die Erkenntnis eingetreten, dass alles Glück chimärisch, hingegen das Leiden real sei.
Arthur Schopenhauer