Das schockierende Komplott um Shadow Moses
von Gary McGolden
Die Insel Shadow Moses liegt genau nördlich von den Fox Islands vor
Alaska, weit hinter dem nördlichen Polarkreis. Auf einer ihrer felsigen
Klippen steht eine Hütte, die normalerweise zur Wetterbeobachtung dient.
Und in ihr saß ich nun auf einem Stuhl, die Hände auf dem Rücken
gefesselt und mit einem Leinensack über dem Kopf. Draußen tobte ein
Schneesturm, und die Hütte war nur ein dunkler, stiller Fleck in diesem
Sturm. Ich spürte, dass da mindestens vier Leute um mich herum waren.
Sie mussten mich jetzt schon seit Stunden verhört haben.
Der Leinensack roch stark nach Kaffebohnen. In der beißenden Kälte der
Hütte drängten sich mir Bilder von Brasilien auf: Alleen voller Blumen
in Hülle und Fülle. Kinder mit schokoladenbrauner Haut. Sonnenschein, so
grell, dass er die Cornea verbrennen könnte, dringt durch
Palmenblätter.
Ich merkte, dass mir langsam die Sinne schwanden.
Der Mann vor mir fragte zum zweiten oder auch zum hundertsten Mal.
"Ich frage noch einmal. Was ist auf der Laserdisc?"
"Ich weiß es aber nicht. Ich habe sie nur gefunden, weiter nichts!"
"Du lügst, du elender Bastard!"
Ein harter Faustschlag traf die Magengrube und brachte ein
Erdnussbutter-Sandwich hoch, das ich vor Stunden gegessen hatte, und
dazu den rostigen Geschmack von Blut. Nach den erbarmungslosen Schlägen
und zahlreichen Messerschnitten der letzten Stunde tat mein Körper
überall entsetzlich weh, und dennoch weigerte ich mich, ihnen zu sagen,
was sie hören wollten. Ich hatte bis dahin einfach schon zu viel
investiert, zu viele Tage mit gefährlichen Untersuchungen für die Story
meines Lebens verbracht. Auf keinen Fall wollte ich das alles an dieser
Stelle aufgeben.
"Das reicht."
Mit diesen Worten war eine Stimme aus dem hinteren Ende der Hütte zu vernehmen.
"Wir haben die Disc wieder. Wir müssen ihn nur noch loswerden, damit wir von hier verschwinden können."
Selbst in diesem jämmerlichen Zustand war ich immer noch Journalist. Er
hatte gesagt: "Wir haben die Disc wieder." Demzufolge waren meine
Peiniger die ursprünglichen Eigentümer dieser Laserdisc. Das Puzzle
komplett. Damit war ohne den geringsten Zweifel klar, dass alle auf der
Disc gespeicherten Fakten der Wahrheit entsprachen und dass es das von
mir vermutete Komplott tatsächlich gab.
In diesem Moment hörte ich wie ein Fenster zerbrach.
Der draußen tosende Sturm schien im Nu in die Hütte einzudringen. Die
Leute, die mich gefangen hatten, stießen erstickte Schreie aus. In der
nächsten Sekunde schlugen sie schon auf dem Boden auf.
Die kurze Verwirrung war so schnell zu Ende, dass ich nicht einmal Zeit
hatte, in Panik zu geraten. Gleich wer hereingekommen war, meine
Peiniger waren offensichtlich nicht mehr auf dem Posten. Gemessenen
Schrittes kam jemand näher.
Wer hatte mir da das Leben gerettet? Oder sollte ich das Schicksal der
anderen teilen? Obwohl die Schritte vor mir Halt machten, hatte ich
seltsamerweise nicht das Gefühl, dass da jemand stand.
Eine unsichtbare Hand zog mir langsam den Leinensack vom Kopf. Ich
fühlte eiskalte Luft im Gesicht und allmählich sah ich in dem dunklen
Raum etwas.
Schließlich konnte ich erkennen, wer da vor mir stand.
Ein riesiges, den Blicken der meisten Bürger verborgenes Komplott bestimmt den Ablauf der Dinge in diesem Land.
Massenvernichtungswaffen, die insgeheim vom Militär entwickelt wurden.
Supersoldaten, die durch genetische Manipulation in Kriegsmaschinen verwandelt wurden.
Ein Killervirus, der mit tödlicher Genauigkeit nur bestimmte Personen aufs Korn nimmt.
Panzer, die nicht rollen, sondern laufen und eine nukleare Nutzlast mitführen.
Eine verdeckte Organisation, die dritte und mächtigste politische
Partei, der ich es zu verdanken habe, dass ich auf diesem Stuhl mitten
im Winter Alaskas gelandet bin.
Alle diese Fakten sind Bestandteil der Wahrheit, die ich auf der
Laserdisc verborgen fand, und auf den folgenden Seiten möchte ich
mitteilen, was ich erfahren habe. Dies schließt alles ein, was ich jetzt
über unsere Regierung weiß, und auch die geheime Arena, in der noch
stärkere Mächte die Fäden ziehen. Viele haben diese Wahrheit geahnt,
aber niemals gewagt, darüber zu sprechen.
Alle Vorkommnisse in diesem Buch sind tatsächlich geschehen, und nachdem
ich sie so erlebt habe, ist meine Welt nicht mehr der sichere Ort, den
ich kannte, und ich darf versprechen, dass Sie ebenso empfinden werden,
wenn Sie den Mut besitzen, weiterzulesen.
Alles begann vor einem Monat.
DER POSTBOTE KLINGELT
Einen Monat bevor ich dem Tod auf Shadow Moses unter dramatischen
Umständen entrinnen konnte, nahm ich ein spätes Frühstück in meinem
Apartment in New York ein.
Seit ich als Kind von Außerirdischen entführt worden war, werde ich von einem Klingeln in den Ohren geplagt.
Eine große Schlammpfütze wurde mir damals zum Verhängnis. Ich rutschte
aus, fiel hin und verlor das Bewusstsein. Erst im Morgengrauen kam ich
wieder zu mir.
Später versuchte ich, im Spiegel die vermeintliche Beule am Hinterkopf
zu sehen und entdeckte statt dessen ES. Ein kleines Loch etwa in der
Größe eines Nadelstichs hinter dem Ohr. Wer so viel fernsieht wie ich,
der lernt schon so einiges dabei. Zweifellos war ich von einem
vorüberfliegenden UFO entführt worden und hatte die Stunden, in denen
ich ohne Bewusstsein war, mit Außerirdischen verbracht! Leider konnte
sich keiner in der Gegend erinnern, ein UFO gesehen zu haben, und
niemand war vernünftig genug, sich meine Geschichte anzuhören. Mir wird
jetzt klar, dass dies der Tag war, an dem ich beschloss, meinen
Lebensunterhalt mit dem Aufdecken der Wahrheit zu verdienen und
Journalist zu werden.
Aber zurück in die Gegenwart. Wie sich herausstellte war das
Klingelgeräusch nicht in meinem Ohr, sondern die Türklingel. Sie
kreischt etwa wie der Bariton einer Fledermaus und wird vom menschlichen
Ohr gerade noch wahrgenommen. Das hatte ich wohl einem besonders
entnervten Besucher zu verdanken, der sich die Finger wundgedrückt
hatte.
Vor der Tür stand ein Briefträger, der einen dicken braunen Umschlag in
den Händen hielt. Auf dem Umschlag war ein Aufkleber mit meiner
Anschrift.
Eine Briefbombe!
Ich drückte ein Ohr an den Umschlag und konzentrierte mich voll. Aber da
war kein Ticken. Natürlich nicht. Heutzutage nimmt keiner mehr
Analoguhren für Bomben. Deshalb spricht man vom digitalen Zeitalter. Und
warum sollte eine Uhr in einer Briefbombe sein? Der unglückliche
Empfänger öffnet einfach den Umschlag, und schon geht die Bombe hoch.
Demzufolge sind die ganz stillen Umschläge die wirklich gefährlichen.
Ich wusste, dass ich die Lasche nicht öffnen konnte, wenn ich nicht im
Engelschor mitsingen wollte. Aber man wird kein Enthüllungsjournalist,
wenn man wie alle anderen denkt.
Ich schlitzte den Umschlag einfach an der Unterseite auf.
*Ratsch*
Nein!
Der Inhalt des verdächtigen Umschlags fiel mit Lichtgeschwindigkeit zu Boden!
In dieser Welt kann man nie zu vorsichtig sein. Lassen sie sich dies
eine Warnung sein, liebe Leser: Sollten es die Umstände einmal
erfordern, dass Sie einen Umschlag von unten öffnen müssen, dann drehen
Sie ihn zunächst herum. In aller Regel fallen Gegenstände, wie ich
festgestellt habe, nach unten, und genau dies passierte auch mit dem
Inhalt meines tödlichen Briefes. Er fiel in die Tiefen einer Pizza, die
ich bestellt, halb gegessen, dann aber auf dem Fußboden vergessen hatte.
Ich konnte mich nicht einmal mehr erinnern, wann genau sie angeliefert
worden war. Jetzt war sie jedenfalls nur noch ein Museumsstück.
Zum Glück war es keine Bombe, sondern eine Laserdisc, die jetzt über und
über mit Erdnussbutter verschmiert war, oder besser gesagt, das
durchsichtige Kunststoffgehäuse, in dem die Scheibe glänzte. Ich starrte
sie eine Zeitlang an und musste an das UFO jenes schicksalhaften Tages
denken.
Wie dem auch war, ich zog die Laserdisc schließlich heraus und stellte
fest, dass sie kein Etikett besaß. Schnell entfernte ich am Waschbecken
die angesammelten Verunreinigungen.
Ich legte sie zum Trocknen ans Fenster und suchte in dem nicht mehr
gefährlichen Umschlag nach Hinweisen. Auf einem innen angeklebten Blatt
Kopierpapier stand:
„Von Max Smithson, Chefredakteur des Magazins MEGASURPRISE
Ich schicke Dir diese Laserdisc, die bei der Redaktion eingegangen ist.
Es ist genau Dein Ding. Sieh zu, dass Du noch mehr herausfindest. Wir
veröffentlichen ein Buch, falls Du genügend Stoff zusammenbekommst. Das
ist die Chance für Dein Comeback, vermassle sie also nicht.“
Max ist ein alter Freund, der einst meine Buchverträge gemanagt hatte.
Wir trafen uns nur noch selten, seit ich aus der Schriftstellerei
ausgestiegen war. Nicht dass er das Recht gehabt hätte, mir mit dem
Comeback und dem Vermasseln zu kommen, aber die Aussicht, wieder ein
Buch zu schreiben, fand ich schon aufregend. Aber es gab ein Problem,
und das war riesig.
Wie sollte ich bloß an den Inhalt der Disc herankommen?
DIE SCHOCKIERENDE WAHRHEIT DARAUF
Mein nächster Nachbar war ein hungerleidender Student, und hin und
wieder haute ich ihn wegen der Benutzung seines Computers an. Ich
klopfte bei ihm an der Tür und rief auch mehrmals, bis er schließlich
schlaftrunken zur Tür geschlurft kam. Nachdem er mich eingelassen hatte,
stürzte ich schnurstracks auf den Computer zu und legte die Disc ins
Laufwerk. Von einem sanften Surren begleitet erschien ein Symbol auf dem
Bildschirm. Die Datei hieß: „In der Finsternis von Shadow Moses“.
Das sofortige Klicken auf das Symbol resultierte aber nur in einer
Fehlermeldung. Was war denn das nun wieder!? Sollte ich etwa wegen einer
geheimen Verschlüsselung nicht auf die Datei zugreifen können!? Aber
sooft ich auch klickte, das Ergebnis war immer dasselbe und ich fing an,
vor Enttäuschung die Tastatur zu beißen, da kam der hungerleidende
Student auch schon aus Angst um seine Ausrüstung angerannt. Er tippte
völlig unverständliches Zeug ein und rief damit einen urkomischen
Anwendungsbildschirm auf. Endlich hatte ich den Inhalt der Disc vor
Augen - eine ganze Menge Text!
Ganz oben stand: „In der Finsternis von Shadow Moses“ von Nastasha Romanenko.
Der hungerleidende Student hatte nun einen Anfall von Bildungshunger und
wollte über meine Schulter hinweg den Text mitlesen. Nachdem ich ihn
mit einem Hieb in den Solarplexus zu Boden geschickt hatte, verschlang
ich den Inhalt der Datei. Es war, als ob mir jemand einen gefrorenen
Thunfisch auf den Kopf geschlagen hätte - so drehte sich von dem Schock
alles in meinem Kopf. Die Datei enthielt die verrücktesten Dinge:
strenggeheime Komplotte, unglaubliche Genversuche, kaltblütiger
militärischer Einsatz geheimer Waffen. So etwas Unglaubliches war mir im
Leben noch nicht begegnet.
DIE INOFFIZIELLEN FAKTEN AUF DER DISC
Die meisten Leser wissen sicher von der Reihe seltsamer militärischer
Aktionen, bei denen es vor etwa zwei Jahren um eine Insel nördlich der
Fox Islands vor Alaska ging. Die Insel heißt Shadow Moses und war
Gegenstand mehrerer gut dokumentierter, aber niemals erklärter Besuche
von offensichtlicher Bedeutung. Die USS Discovery, ein U-Boot der
Ohio-Klasse mit ballistischen Raketen an Bord, wurde aus ihrem
vorgesehenen Trainingsgebiet weggelotst und dann vor der Küste der Insel
Shadow Moses gesichtet. Vorher war bereits sehr plötzlich eine E-3C
AWACS in dieses Gebiet geflogen, an Bord befand sich kein anderer als
der nationale Sicherheitsberater, Jim Houseman. 16 Stunden später
starteten 6 F117 Night Hawks mit voller Gefechtsladung von der
Luftwaffenbasis Galena in Richtung Alaska.
Die Medien brachten damals verschiedene Theorien in Umlauf. Manche
Journalisten behaupteten, es habe sich um einen gescheiterten
Invasionsversuch einer fremden Macht gehandelt. Andere vermuteten einen
Putschversuch von Teilen des US-Militärs. Ich schrieb eine Stellungnahme
für eine Zeitschrift, in der ich die Theorie darlegte, dass Shadow
Moses das Ellis Island der „Greys“ sei. Schließlich sind diese grauen
Liliputaner die bekanntesten unserer Außerirdischen Nachbarn und
besitzen, wie man weiß, überall auf dem Planeten Erde geheime
Stützpunkte.
Aber nach den Daten in dieser Datei zu urteilen, lagen wir alle meilenweit daneben
Statt dessen hatte auf Shadow Moses der bedeutendste terroristische
Zwischenfall der Geschichte stattgefunden, bedeutender als der Angriff
auf das Pentagon und WTC - ein apokalyptisches Szenario, entstanden aus
einem Superman-Projekt der Regierung und einer Vernichtungswaffe
gleichen Ursprungs.
An jenem schicksalsschweren Tag war die Kernwaffenentsorgungsanlage auf
Shadow Moses plötzlich von „FOXHOUND“, einer Truppe für irreguläre
Operationen, besetzt worden, diese Aktion wurde von einer Gruppe von
Supersoldaten der nächsten Generation unterstützt. Angedroht wurde nicht
weniger als ein nuklearer Schlag gegen das Festland der Vereinigten
Staaten!
Weshalb sind wir dann alle noch am Leben? Anscheinend haben wir das der
Einschleusung eines einzigen, nur als „Solid Snake“ bekannten Mannes, in
die Entsorgungsanlage zu verdanken.
Aber dies ist, ob Sie es glauben oder nicht, nur die Spitze des Eisbergs
bei diesem Zwischenfall von Shadow Moses. Die Disc enthält weitere
erschreckende Fakten, wie etwa ein Komplott der Regierung, eine
Geheimwaffe, die als „laufender Panzer mit nuklearer Fähigkeit“
beschrieben wird, und anspruchsvolle Genmanipulationsprojekte. Viele
dieser verborgenen Machenschaften deckte Solid Snake bei seiner Mission
auf, und so ist es jetzt meine Aufgabe, die Leser über diese Fakten zu
informieren.
Aber ist es dafür vielleicht doch noch ein bisschen zu früh? Der Inhalt
der Disc könnte schließlich nichts weiter als reine Fiktion sein oder
gar eine Wahnvorstellung. Wer ist eigentlich diese Nastasha Romanenko?
AUF DER SUCHE NACH NASTASHA ROMANENKO
Eine schnelle Suche im Web brachte ein paar aufschlussreiche Fakten über
diese schwer fassbare Schriftstellerin. Nastasha Romanenko hatte einmal
bei der DIA (Defense Intelligence Agency) gearbeitet. Zum Zeitpunkt des
Zwischenfalls auf Shadow Moses scheint sie selbstständige
Militärexpertin gewesen zu sein und hatte die DIA bereits verlassen.
Kern- und Waffentechnologie waren sicherlich ihr Schwerpunkt, und auf
der Disc führt sie aus, dass sie zum Missionsunterstützungsteam von
Solid Snake gehörte. Ihre genaue Rolle bestand darin, als Mitglied von
NEST (Nuklearnotfall-Suchteam) über Funk praktisches Fachwissen zu
vermitteln. Durch ihre enge Einbeziehung in die Mission hatte sie einen
vollständigen und klaren Blick auf die Fakten dieses Falles, auch wenn
die Vertuschung durch die Regierung erfolgreich war.
Ein Blick auf den Lebenslauf und die Veröffentlichungen von Romanenko,
zeigt mehr als deutlich, dass sie gegen Kernwaffen ist. Daraus und aus
all den anderen Fakten zu ihrer Person ergibt sich, dass Nastasha
Romanenko die Verschwörungstheorien wohl nicht um ihrer selbst willen
verfolgte, es sei denn, sie hätte an einer plötzlichen hormonellen
Störung gelitten oder plante eine Karriere als Drehbuchautorin für
Hollywood.
Alles sehr interessant. Aber wo hält sich Nastasha Romanenko eigentlich
zur Zeit auf? Ich beschloss, beim Herausgeber des Buches, Global
Elements Inc., anzurufen. Das Gespräch nahm folgenden Verlauf.
Ich: „Hallo, Sie Ladenhüter! Was wissen Sie über eine Frau namens Nastasha Romanenko?“
Am anderen Ende: „He, da war ein Anruf aus dem Dorf. Sie wollen ihren
Idioten wiederhaben. Und achten Sie ein bisschen auf ihre Manieren, Sie
Knallkopf.“ Klick.
Es war klar, dass man mir da etwas vorenthielt. Warum sonst diese
abrupte Reaktion und das hastige Auflegen? Ich war einer wichtigen, ja
gefährlichen Sache auf die Spur gekommen. Wenn der Inhalt der Disc der
Wahrheit entsprach, dann war diese Nastasha Romanenko ganz bestimmt die
„Frau, die zu viel wusste“. Ihr Leben musste in Gefahr sein, und sie war
entweder untergetaucht oder schon tot. Dieses kurze Telefonat sprach
Bände: Ein Killer war auf sie angesetzt! Wenn dies der Preis für das
Aussprechen der Wahrheit war, wie sie auf der Disc beschrieben ist, dann
war das Bild komplett. Aber stimmte wirklich alles, was sie geschrieben
hatte?
Ich ging in mein Apartment zurück und packte eine Tasche. Ich wollte nach Shadow Moses.
DER KÄLTESTE ORT
Ich nahm ein Flugzeug zum nördlichsten Inlandsflughafen und besuchte meinen Cousin John-Dee.
John-Dee ist mit Herz und Seele Einwohner von Alaska und dazu
begeisterter Thunfischfänger. Als ich ihn bat, mich bei einer seiner
Fangfahrten auf der Insel Shadow Moses abzusetzen, wurde er ganz blass
und bekam ein nervöses Zucken um die Augen.
„Shadow Moses? Bist Du verrückt? Alle Fischer sagen, dass es da nur so
von Militär wimmelt. Wenn Du Dich der Küste auch nur näherst, blenden
Dich riesige Suchscheinwerfer. Ein Fischer wurde sogar mal verhört!“
Ich spürte plötzlich die kalte Hand der Angst, aber auch die Gewissheit, dass ich auf der richtigen Spur war.
„Du bist ein Feigling, weißt Du das? Lass Dich mal von einem UFO entführen, dann weißt Du, was Angst ist.“
„Ich habe Familie, weißt Du? Da werde ich nicht den starken Mann markieren!“
„Gut, bringe mich so weit wie möglich an die Insel ran. Die restliche Strecke schwimme ich dann eben.“
„Schwimmen? Da wird ja Gefrierfisch aus Dir.“
„Mach Dir deshalb keine Sorgen. Ich habe da eine Idee.“
Noch an diesem Tag legten wir nach Shadow Moses ab.
DIE REISE NACH SHADOW MOSES
Es war kälter als im Käsefach, und das Boot schaukelte wie eine fast
entgleisende U-Bahn auf dem Koffeintrip. Vor Kälte zitterte ich ständig,
würgte Erdnussbutter ins Meer und nahm dann einen zur Brust, um mich
warm zu halten. Mehrere Tage vergingen auf diese angenehme Art und
Weise, bis John-Dee, der Linien auf der Karte eintrug, sich mir
zuwendete.
„Tut mir leid, aber dichter kann ich nicht ran. Wenn Du die Sache
wirklich durchziehen willst, musst du den weiteren Weg selbst finden.“
Laut Karte waren es noch 20 Seemeilen bis Shadow Moses. Aber John-Dee
war schon ein jammerndes Wrack, und ich brachte es nicht übers Herz, ihn
zu zwingen. Dafür zwang ich meine Nerven zu eiserner Ruhe.
„Ist schon gut. Hilf mir bei der Vorbereitung.“
Es war ein fabelhafter Plan. Ich hatte einen riesigen Thunfisch
ausgenommen und ihn mit aufgeblasenen Ballons ausgestopft. Eine kleine
Öllampe sollte das Innere schön warm halten. Ich wollte meinen Körper
auf ganzer Länge mit dem Fisch bedecken und dann paddelnd den Weg zur
Insel zurücklegen. Ein eventueller Sauerstoffmangel ließe sich dank der
Ballons schnell ausgleichen, und meine Landung würde so aussehen, als ob
ein großer toter Fisch angeschwemmt worden sei. Ich musste dann nur
noch unentdeckt aus dem Thunfisch herausschlüpfen und diesen Ort
gründlich untersuchen. Absolut brillant.
Ich ertrug den Fischgeruch der Thunfischhaut mit der stoischen Haltung
eines echten Journalisten und ging zur Kante des Bootsdecks. Die Kälte
des Polarwinds war selbst durch den Tauchanzug hindurch betäubend. Ich
sagte John-Dee ein herzliches Lebewohl und sprang ins Meer. Aber dann
kam die Katastrophe!
Schuld war die Mittelgräte des Thunfischs. Durch den Schwung der Landung
stieß sie mich hart an den Hinterkopf. Ich versuchte, mich
aufzurichten, war durch die Ballons in meiner Bewegungsfreiheit stark
eingeschränkt. Der Thunfisch begann schnell zu sinken, und ich stieß
wild mit den Beinen, während eine Menge Meerwasser in meine Lunge drang.
Um alles noch schlimmer zu machen, fiel auch noch die Lampe um und
verlor die Abdeckung. Ich konnte die Hitze der offenen Flamme gefährlich
nahe an meinem Gesicht spüren und das versengte Haar riechen. Deshalb
hasse ich das Reisen.
Stunden schienen vergangen zu sein, als ich mich dann doch am Strand der Insel Shadow Moses wiederfand.
WELCHE TERRORISTISCHEN ANSCHLÄGE WURDEN HIER VERÜBT?
Lassen wir noch einmal Revue passieren, was sich an jenem
schicksalsschweren Tag auf der Insel zutrug. Romanenkos Disc gibt eine
vollständige Antwort auf diese Frage.
Auf Shadow Moses befand sich keine gewöhnliche Waffenentsorgungsanlage,
sondern die Insel diente, unter anderem, als geheimes militärisches
Trainingsgelände. An diesem Tag führten die als FOXHOUND bekannte
Ausputzertruppe und die Special Forces der nächsten Generation
gemeinsame Übungen durch.
FOXHOUND ist eine „irreguläre“ Truppe von Elitesoldaten, die bis zu den
Zähnen mit der allerneuesten Technologie ausgerüstet und bewaffnet sind.
Sie haben in der jüngsten Geschichte seit langem und stets im
Verborgenen Sabotageakte, selektive Tötungen und andere verdeckte
militärische Operationen durchgeführt. Wo die Vereinigten Staaten nicht
offiziell eingreifen konnten, sei es in Bürgerkriegen, regionalen
Unruhen oder anderen Konflikten niedriger Dringlichkeitsstufe, trat
FOXHOUND auf den Plan. Es ist aber äußerst unwahrscheinlich, dass der
Normalbürger je von diesen Kommandokämpfern gehört hat, denn sie sind
ein strenggeheimes Regierungsprojekt.
Jetzt zu den Special Forces der nächsten Generation. Diese herausragende
Antiterror-Einheit wurde erst kürzlich formiert, um terroristische
Zwischenfälle zu bewältigen, insbesondere solche, bei denen nukleare,
biologische und chemische Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen.
Rekrutiert wurden vor allem ehemalige Söldner die ein striktes
VR-Training nach dem Konzept der FORCE 21 durchliefen. Das Ergebnis ist
eine Kampfähigkeit, die selbst die der Delta Force der DEV GRU (füher
als SEAL-Trupp 6 bekannt) übertreffen soll. Wirklich beängstigend ist
aber, dass diese Soldaten genmanipuliert worden sein sollen, um ihre
Kampffähigkeit noch zu erhöhen. Sie waren die reinrassigen unter den
Kriegshunden, und sie wandten sich mit einer überraschenden Forderung
gegen ihre Herren. Nachdem sie die verfügbaren Zivilisten
gefangengenommen hatten, forderten sie von der Regierung die Übergabe
des Körpers von ‚Big Boss’, Begründer von FOXHOUND und Kampfgenie. Die
Regierung hatte 24 Stunden Zeit, danach würde ein nuklearer Schlag
ausgeführt werden. Aber was war das Motiv für eine solche Forderung, und
wie wollten Sie ihre Drohung in die Tat umsetzen, eine Kernwaffe zu
zünden?
Auf diese Fragen gab es noch keine Antwort, und dennoch entschloss sich
die Regierung zu einer scheinbar tollkühnen Vorgehensweise. Um einen
nuklearen Schlag aufzuhalten und die Geiseln aus den Klauen dieser
Supersoldaten zu befreien, wurde ein einziger Mann eingesetzt. Sein Name
war Solid Snake, ein ehemaliger Angehöriger der jetzt meuternden
FOXHOUND-Truppe, ein legendärer Söldner, der auf sich allein gestellt
die Festungsstädte Outer Heaven und Zanzibar Land zu Fall gebracht
hatte.
Sie halten dies sicher für unglaublich. „Ein einziger Mann?“ werden Sie
fragen. „Sie haben beschlossen die Zukunft der gesamten Welt einem
einzigen Söldner anzuvertrauen?“ Ich kann diesem Gefühl voll und ganz
beipflichten. Aber hinter dieser Mission steckte mehr, als auf den
ersten Blick ersichtlich war, wie ich später entdecken sollte.
DAS FERNUNTERSTÜTZUNGSTEAM VON SOLID SNAKE
Snake wurde von der USS Discovery, einem U-Boot der Ohio-Klasse mit
ballistischen Raketen, bei der Insel abgesetzt. Er war zwar als einziger
Kämpfer vor Ort eingesetzt, aber ein ausgesuchtes Missionsführungsteam
stand mit ihm in Funkkontakt.
Mit der Gesamtführung der Mission war Oberst Roy Campbell beauftragt,
der sich an Bord der USS Discovery befand. Als ehemaliger Kommandeur der
FOXHOUND-Truppe und Snakes Vorgesetzter während des Aufstands in
Zanzibar Land 1999, war er zwangsweise reaktiviert worden, um diese
neueste Krise zu bewältigen.
Ebenfalls an Bord der Discovery befand sich Dr. Naomi Hunter, eine
Gentechnik-Expertin der kommerziellen Biotech-Firma ATGC Inc. Sie
leitete das Genmanipulationsprogramm der FOXHOUND-Truppe.
Mei Ling, die Entwicklerin des topmodernen Radar- und
Kommunikationssystems der Mission, war das dritte Teammitglied. Sie war
anscheinend ein technisches Wunderkind und entwickelte die
Kommunikationstechnologie der nächsten Generation noch als
MIT-Studentin. Zur Zeit der Mission war sie wahrscheinlich noch nicht
einmal 20 Jahre alt.
McDonnell Miller, ein ehemaliger Überlebenstrainer der FOXHOUND-Truppe,
war das einzige Mitglied des Missionsführungsteams in Alaska. Auf eigene
Bitte hin arbeitete Miller, im Gegensatz zu den anderen vier
Teammitgliedern, von seinem Haus in Alaska aus.
Und schließlich war da noch Nastasha Romanenko im Team, Autorin von „In
der Finsternis von Shadow Moses“ und Expertin für nukleare und andere
Massenvernichtungswaffen.
DIE GEISELN UND WAS SIE UNS ERZÄHLEN
Die erste Aufgabe, die Solid Snake nach seiner Einschleusung auf Shadow
Moses erfüllen musste, war die Befreiung der Geiseln. Insbesondere zwei
Gefangene waren von außerordentlicher Bedeutung, aber keiner von ihnen
überlebte die Mission. Obwohl es Snake gelungen war, beide zu befreien,
starben sie plötzlich auf dieselbe Art und Weise. Das
Missionsführungsteam vermutete zunächst Herzschlag als Todesursache -
aber diese Diagnose sollte sich als völlig falsch erweisen.
Die erste Geisel war Donald Anderson, Chef der DARPA (Defense Advanced
Research Projects Agency), der Forschungs- und Entwicklungsbehörde des
US-Verteidigungsministeriums. Diese Organisation ist verantwortlich für
die Planung und Überwachung der Entwicklung neuer Waffentechnologie.
Die andere VIP-Geisel, Kenneth Baker, war der Präsident von ArmsTech,
einem der größten und mächtigsten Auftragnehmer des
Verteidigungsministeriums.
Ein Überwacher der Kriegstechnologie der USA und ein mächtiger
Waffenproduzent treffen sich nicht zufällig auf einem abgelegenen
militärischen Vorposten. Niemandem, der diesen Bericht liest, wird
entgehen, dass diese beiden am Besuch einer Kernwaffenentsorgungsanlage
kein Interesse haben konnten. Und da weder Anderson noch Baker für eine
Vorliebe für Winterpicknicks bekannt waren, klingt Romanenkos Vermutung,
eine neue Waffe sei insgeheim auf der Insel entwickelt worden, umso
wahrscheinlicher. Sie behauptet, dass es tatsächlich eine solche Waffe
gegeben habe, die ihrer Fertigstellung so nahe war, dass ein Feldtest
stattfinden sollte. Aber was genau war diese neue Waffe?
DIE MUTTER ALLER WAFFEN
Metal Gear. Ich bin mir nicht sicher, ob dies vielen von ihnen ein
Begriff ist. Ich kannte ihn als ein Gerücht unter Journalisten, als ich
noch ein einfacher Reporter war. Es handelte sich um einen zweibeinigen
Phantompanzer, der sich mit nie dagewesener Geschwindigkeit durch so
schwieriges Gelände wie Gebirge, Wüste und Sümpfe, bewegte und
Kernsprengköpfe aus Positionen abschoss, die bislang undenkbar gewesen
waren. Wenn diese Waffe erst einmal von den Fließbändern rollte, konnten
nukleare Angriffe aus fast jedem noch so ungünstigen Gelände geführt
werden, so dass die taktische Nuklearkarte der ganzen Welt neu
geschrieben werden musste.
Dieser zweibeinige Panzer mit nuklearer Fähigkeit soll während der
Ereignisse von Outer Heaven in Südafrika und von Zanzibar Land in
Zentralasien auf seine Chance gewartet haben. Einer Theorie zufolge soll
die Entwicklung bis zum Stadium eines funktionierenden Prototyps
fortgeschritten gewesen sein, doch tauchte die Waffe nie auf der
Weltbühne auf. Durch einen seltsamen Zufall oder kausalen Zusammenhang
war es kein anderer als Solid Snake, der in beiden Zwischenfällen die
Welt vor der Bedrohung durch Metal Gear rettete.
Aber die Geschichte wiederholt sich tatsächlich, und das Gespenst von
Metal Gear erstand wieder auf - in Gestalt des topmodernen
Waffenentwicklungsprogramms auf der Insel Shadow Moses.
An diesem Punkt in der Erzählung angekommen, drängte sich mir plötzlich
eine Frage auf. War die Zeit für Metal Gear nicht endgültig abgelaufen?
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegen Ende des vergangenen
Jahrhunderts, war die Idee der gesicherten gegenseitigen Zerstörung und
das Wettrüsten zur Aufrechterhaltung dieses gefährlichen Status
allmählich in Vergessenheit geraten. Der von beiden Supermächten
unterzeichnete START2-Vertrag trug bereits in jener Zeit zum Abbau der
nuklearen Arsenale bei. Und die Entsorgungsanlage auf Shadow Moses war
gebaut worden, um dort viele dieser Sprengköpfe zu entschärfen und zu
lagern. Wenn Kernwaffen schon ernsthaft einer Prüfung unterzogen wurden,
warum sollte dann das Militär in die Entwicklung eines Panzers mit
nuklearer Fähigkeit investieren? Oder hatte diese Waffe noch mehr zu
bieten?
DIE NATUR DER SUPERWAFFE
Meine Damen und Herren, ich stelle Ihnen Metal Gear REX vor, die neueste
Waffe ihrer Art. Sie ist fast 14 Meter hoch, mit Balkan-Kanonen und
einer Laser-Gruppe bewaffnet und wird durch eine ganz neue
Kombinationspanzerung geschützt, wodurch sie selbst gegen HEAT-Geschosse
(Panzerabwehr-Sprengköpfe) geschützt ist. Und dabei habe ich die
wirklich furchteinflößende Eigenschaft dieser Waffe noch gar nicht
erwähnt.
Die Krönung von „Shadow Moses Metal Gear“ ist die
Schienenkanonen-Technologie. Die Kanone ist so konstruiert, dass
nukleare Sprengköpfe aus der Atmosphäre hinausgeschossen werden, die
sich dann automatisch auf ihr Ziel ausrichten und auf einer optimalen
Bahn zurück zur Erde fliegen.
„Na und?“ werden Sie vielleicht denken. „Da kommt eine große, fette
Rakete aus dem Himmel angeflogen. Wen interessiert es, woher sie kommt?
Schießt das verdammte Ding doch einfach ab.“ Aber die Sache hat einen
Haken: Sie werden keinen einzigen der mit REX gestarteten Sprengköpfe
entdecken, geschweige denn abschießen können. Sie glauben mir das nicht?
Die harten Fakten sind da allerdings auf meiner Seite.
Normalerweise absolvieren ballistische Raketen vier Phasen vom Start bis
zum Aufprall. Zuerst kommt die Beschleunigungsphase. Diese umfasst die
Zeit vom Start der Rakete bis zum Verlassen der Atmosphäre, wobei der
Treibstoff verbraucht wird. Nach dem Ausbrennen kommt die
Nachbeschleunigungsphase der Rakete, die mit der Abtrennung des
Wiedereintrittskörpers endet, der den Sprengkopf enthält. Daran schließt
sich als dritte die Marschphase an, in der sich der
Wiedereintrittskörper loslöst und kontrolliert wieder in die Atmosphäre
eintaucht. Der Wiedereintritt des Sprengkopfs in die Atmosphäre und sein
Eintreffen am Ziel markieren schließlich die vierte und letzte Phase.
Moderne Raketenabwehrsysteme entdecken anfliegende ballistische Raketen
indem sie nach dem Brennkegel in der Beschleunigungsphase Ausschau
halten. Bei der Metal-Gear-Raketentechnologie wird die Beschleunigung in
der ersten Phase aber, im Gegensatz zum konventionellen Raketenantrieb,
mit einer Schienenkanone erreicht. Demzufolge können die modernen
Raketenabwehrsysteme nichts entdecken.
Die Schienenkanone kommt mit ihrer erstaunlichen Reichweite von über
4800 km der von ballistischen Raketen mittlerer Reichweite gleich. Sie
trifft das Ziel in 50% der Fälle in einem Radius von 52 Metern und
gehört somit in dieser Hinsicht zu derselben Klasse wie die besten ICBM
(Interkontinentalraketen). Da sich Metal Gear so gut wie für jedes
Gelände eignet, kann die Schienenkanone von fast jedem Punkt auf dem
Erdball einen verborgenen nuklearen Schlag führen.
Durch diesen unsichtbaren Angriff wäre es auch bei einem Schlag
niemandem möglich, den Ursprung einer bestimmten Rakete zu ermitteln.
Ohne einen klaren Aggressor, auf den der Gegenschlag gerichtet wird, hat
das Prinzip der gesicherten gegenseitigen Zerstörung keine Bedeutung
mehr. Ohne die Angst vor dieser gesicherten gegenseitigen Zerstörung
würden die heutigen Regeln des nuklearen Gewaltverzichts nicht mehr
gelten.
Selbst wenn die ganze Welt wüsste, dass eine nukleare Rakete auf der
Insel Shadow Moses gestartet werden soll, wäre das Raketenabwehrsystem
machtlos gegen diese neue Art von ballistischen Raketen. Genau davon
gingen die Terroristen aus, als sie Metal Gear REX und seine allmächtige
Kernwaffe gegen die Welt richteten.
WAS ICH SCHLIESSLICH IM INNEREN DER FESTUNG SAH
Wie dem auch sei.
Ich stapfte durch eine Höhle und schwitzte dabei unter dem Gewicht
meines getreuen Thunfisches. Bald waren statt Felsen glatte Mauern und
eine Reihe heller Lampen zu sehen. Ich war endlich da. Dies war
zweifellos die Wiege des Aufstands, die militärische Anlage, in die
Solid Snake sich so trefflich eingeschleust hatte, das Auge des Sturms,
der die Welt zu verschlingen drohte!
Zum Glück war keine Menschenseele zu sehen. Allerdings konnte ich durch das Pfeifen des Windes einen schwachen Schrei hören.
„Gary, hilf mir!“
Ich traute meinen Ohren nicht. Wie konnte jemand auf einer abgelegenen
Insel, auf der ich nie zuvor gewesen war, meinen Namen kennen? Ich
schaute mich vorsichtig um und erblickte eine bekannte Figur bei den
Stahlpfeilern in der Ecke. Es war, John-Dee! Mein Cousin, der mich vor
wenigen Stunden einfach so in das eiskalte Meerwasser geworfen hatte,
saß nun am Boden und war an einen Pfosten gefesselt. Was war geschehen?
„Hilf mir, Gary!“
Ich trabte in die Richtung, aus der er so erbärmlich schrie. Der
Thunfisch lastete schwer auf meinem Rücken. Er lächelte schwach, als er
mich sah.
„Was zum Teufel ist denn mit Dir passiert, John-Dee?“ fragte ich, während ich mich neben ihn hockte.
„Ich weiß nicht. Gleich nachdem ich Dich ins Wasser gelassen hatte, kam dieser schwarze Hubschrauber.“
„Ein Hubschrauber?“
„Ja, so ein fast viereckiger schwarzer. Dann weiß ich nichts mehr. Als
ich wieder zu mir kam, war ich hier angebunden. Gary, warum hast Du denn
den Fisch noch um?“
War mehr an der Sache dran als ich gedacht hatte? Wer war
verantwortlich? Das Militär? Oder etwa die geheimnisvolle Gruppe, von
der auf der Disc die Rede war und deren Macht selbst die des
US-Präsidenten übertraf?
Plötzliche Schüsse unterbrachen meine Gedanken. Instinktiv zog ich mir den Thunfisch wieder über.
„Gary, Du musst mir helfen! Binde mich los, bitte!?“
Wo war der Schütze? Die Kugeln prallten als Querschläger von den Pfosten
ab, so dass ich nicht feststellen konnte, woher das Feuer kam. Wenn ich
einfach stehenblieb, war mir der Tod sicher. Was sollte ich als
nächstes tun?
„Binde mich los, Mann! Gary!“
„Nenne mich nicht Gary! Ich bin bloß ein Thunfisch!“ ich rannte los,
wich Kugeln aus und sprintete die Treppe hoch. Ich war nicht aufzuhalten
und rannte wie eine Gazelle in einer großen Fischhaut. Lebewohl, Cousin
John-Dee. Ich muss einer wichtigeren Verantwortung gerecht werden als
Deiner Sicherheit. Ich gehe einen schweren und einsamen Weg.
SOLID SNAKE GEGEN DIE ARMEE DER FINSTERNIS
Nehmen wir uns einen Moment, um die Schritte von Solid Snake Revue
passieren zu lassen. Die Kernwaffenentsorgungsanlage, in die er sich
eingeschleust hatte, wimmelte nur so von Terroristen, und der Kampf mit
dem Feind war unvermeidlich. Dies war, ohne jeden Zweifel, ein
Schlachtfeld.
Snakes Fortschritt wurde auf Schritt und Tritt von den patrouillierenden
Supergenom-Soldaten und so gefährliche FOXHOUND-Angehörige wie Psycho
Mantis, Meister der Psychokinese und des Gedankenlesens, dem
chamälionartigem Decoy Octopus, dem riesigen Raven mit seinem
Maschinengewehr und Sniper Wolf, einem der besten Scharfschützen aller
Zeiten behindert. Jetzt möchte ich kurz die Personen vorstellen, die am
tiefsten in das Komplott der Regierung verstrickt zu sein schienen.
Diese Informationen dürften die schreckliche Wahrheit über diesen Fall
noch klarer erscheinen lassen.
- Revolver-Ocelot
Ein ehemaliger Angehöriger der Spetznaz, der auch als „Shalashaska“
bekannt war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand er lukrative
Aufträge als Söldner in konfliktgebeutelten Regionen auf der ganzen
Welt. Seine Aktivitäten resultierten schließlich darin, dass ihn die
Regierung der USA rekrutierte, und er kam zur FOXHOUND-Truppe. Wie sein
Codename besagt, ist er ein hervorragender Schütze mit einer Vorliebe
für Revolver.
Ocelot forderte Snake heraus, als er nach dem Präsidenten der ArmsTech
Inc., Kenneth Baker, sehen wollte. Aber der Kampf kam nie zu dem von
Ocelot gewünschten Ende, weil sich plötzlich der mit Stealth. Tarnung
bekleidete Cyborgh-Ninja einmischte. Mit seinem Schwert schnitt der
Ninja einen lebensgefährlichen Bogen durch Ocelots rechten Arm, so dass
sich Ocelot in Todesangst zurückzog.
Der russische Schafschütze war auch das Verbindungsglied zwischen seiner
Terroristenbande und einer russischen Miliz, die der übergelaufene
Oberst Gurlukovich anführte. Der Plan des FOXHOUND-Führers Liquid Snake
sah vor, dass sich die russische Miliz ihnen auf Shadow Moses
anschließen sollte, nachdem der nukleare Schlag geführt worden war.
Danach wollten sie von der sicheren Insel aus einen Generalangriff auf
den Rest der Welt beginnen. Mit nuklearen Raketen, die weder entdeckt
noch bekämpft werden konnten, hatte diese neue Armee, die sich aus über
tausend erstklassigen russischen Soldaten, Genom-Kommandokämpfern der
nächsten Generation und der FOXHOUND-Truppe mit ihrer Kampffähigkeit und
taktischen Beschlagenheit zusammensetzte, kein geringeres Ziel, als die
Auslösung des 3. Weltkriegs.
- Der Ninja
Diese geheimnisvolle, mit einem verstärkten Hautskelett und
Stealth-Tarnbekleidung ausgestattete Figur verwirrte Snake ebenso wie
die Terroristen mit ihrer übermenschlichen Kraft und Beweglichkeit. Der
Ninja schien nicht am Geschehen in der Anlage interessiert zu sein, es
ging ihm einzig und allein um einen Kampf mit Snake. Nur durch diese
Begegnung konnte Snake herausfinden, wer der Ninja eigentlich war.
Sein Name war einmal Gray Fox gewesen, und sein bester Freund, Snake,
hatte ihn angeblich getötet. Dies mag überraschend sein, aber die
Wiederkehr von Toten ins Leben kommt immer wieder vor. Beispiele aus
aller Welt bestätigen diese Tatsache. Als 1925 das Grab des ungarischen
Bauern Roland Grace verlegt wurde, wurden an der Innenseite des
Sargdeckels tiefe Kratzspuren entdeckt. Das sah so aus, als ob der
sterbende Mann versucht hätte, sich aus dem Sarg herauszukratzen. Etwas
netter ist die Geschichte eines Japaners namens Jin-Emon Natakama. 1914,
volle zehn Jahre nachdem er bei der Erkundung einer Höhle verschollen
war, kam er aus ebendieser Tropfsteinhöhle wieder heraus. Seine Familie
war um so erstaunter, da er anscheinend keinen Tag gealtert war, seit er
zuletzt gesehen worden war. All das erscheint mir völlig
nachvollziehbar und dürfte auch dem Leser in Kürze klar sein. Nur ein
Wort: Pyramidenkraft. Ich zweifle nicht daran, dass Gray Fox von den
Militärwissenschaftlern während ihrer fürchterlichen Genversuche
gezwungen wurde, sich demselben Wiederbelebungsprozeß zu unterziehen.
- Liquid Snake
Ich weiß genau, was sie empfinden, wenn Sie den Namen des Mannes hören,
der den Aufstand auf Shadow Moses anführte, und ich antworte mit einem
Ja. Solid Snake, unser Held, und Liquid Snake sind nichts anderes als
Zwillingsbrüder.
Allerdings nicht im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Denn es handelt sich
um ein weiteres Zeugnis der gefährlichen Liebe des amerikanischen
Militärs für die Gentechnik. Die zwei Snakes sind Kampfmaschinen, die im
Rahmen des Projekts „Les Enfants Terribles“ geschaffen wurden!
Zahlreichen und hartnäckigen Gerüchten zufolge, soll die Regierung die
„Massenproduktion“ von Supersoldaten erwägen. Erst unlängst hörte ich
von „D-People-E-O“, einem menschenartigen Kampfdroiden. Die Entwicklung
der äußeren Hülle war reibungslos verlaufen, aber im Inneren musste sich
ein menschliches Wesen befinden, damit die Einheit funktionieren
konnte, was ihren Nutzen etwas einschränkte. Das Militär bemerkte diese
Tatsache erst recht spät und zog dann die Notbremse. Es hatte auch einen
Plan gegeben, das DANN-Material eines wohlbekannten Psychokinetikers zu
verwenden und ein Heer begabter Soldaten zu züchten. Unglücklicherweise
wies jemand daraufhin, dass sie nicht zu gebrauchen waren jedenfalls
nicht in einer nomalen Kampfsituation.
Solid und Liquid Snake wurden hingegen erfolgreich aus dem Genmaterial
ihres „Vaters“ Big Boss erzeugt. Sie wurden buchstäblich geboren, um
außergewöhnliche Soldaten zu sein, und so war es kein Wunder, dass ein
Kampf der Titanen folgte, als sie sich schließlich begegneten.
WAS ICH AUF DEM DACH SAH
Ich schleppte mich und den Thunfisch die Treppe hoch und wich dabei
unsichtbaren Scharfschützen aus. Die Wendeltreppe schien kein Ende zu
nehmen. Als ich das Treppensteigen gerade aufgeben wollte, sah ich den
Ausgang zum Dach.
Ich öffnete die Tür und torkelte in das schwach erleuchtete Dunkel. Der
eiskalte Wind schien meinem überlasteten Körper wohlzutun. Ich legte den
Thunfisch ab und setzte mich neben ihn, um mich etwas zu erholen. Der
Feind konnte mich auch hier verfolgen, aber zum Weiterlaufen hatte ich
keine Kraft mehr.
Ich zog meine Feldflasche mir Erdnussbutter in Bourbon und nahm einen
großen Schluck. Das Getränk lief mir wie Öl durch die Kehle.
Erdnussbutter ist mein Waterloo. Als Junge konnte ich nicht wie die
anderen heißblütigen Kinder Erdnussbutter essen. Eines Tages beschloss
ich, diese Schwäche zu bekämpfen, indem ich mich der Erdnussbutter
übermäßig aussetzte: Alles, was ich aß, musste mit Erdnussbutter
bestrichen sein. Bei meinem Lieblingsgericht Chiliwürstchen ohne
Zwiebeln angefangen, über Kaugummi bis zu den Lippen meiner ersten
Freundin versah ich alles mit diesem Aufstrich.
Das Ergebnis war natürlich, dass ich Erdnussbutter bald hasste. Hatte
ich sie vorher schon nicht sonderlich gemocht, so verabscheute ich sie
nunmehr völlig. Wenn ich könnte, würde ich sämtliche Weltbestände an
Erdnussbutter sammeln und im Bermudadreieck versenken. Da dies nicht
geht, esse ich eben soviel von dem Zeug wie möglich. Erdnussbutter, ich
werde Dich immer hassen.
Wie war gleich dieser Song?
‚And I-ai-ai will always hate you-u-U-u’
Nein, das stimmt nicht.
‚Will always - ‚
Es muss ein anderer Song sein. Fällt mir aber jetzt nicht ein. Langsam werden meine Schuhe eingeschneit.
Wo ist mein Thunfisch? Ach ja, hier rechts neben mir.
Ein helles Licht in meinen Augen. Jetzt weiß ich wieder, welcher Tag
heute ist: der 24. Juni. Der Jahrestag meiner Entführung durch ein UFO.
Warum war ich bloß so müde? Und was ist das für ein Geräusch?
Es war ein Helikopter. So ein fast viereckiger schwarzer, und er kam immer näher.
FOXDIE - DER GEHEIME KILLERVIRUS
Sie werden sich erinnern, dass ich berichtete, die zwei Geiseln,
DARPA-Chef Donald Anderson und ArmsTech-Präsident Kenneth Baker, seien
einem Herzschlag erlegen, während sie von Solid Snake gerettet wurden.
Die wirkliche Todesursache war aber ein speziell gezüchteter Killervirus
mit dem Namen FOXDIE.
FOXDIE ist ein Retrovirus, der nur ausgewählte Leute umbringt. Seine
Entwicklung übernahm Naomi Hunter von ihrem Vorgänger. Sobald FOXDIE in
die Zielperson eingedrungen ist, stirbt diese fast augenblicklich. Es
ist praktisch das virale Äquivalent der spontanen menschlichen
Verbrennung.
Dr. Hunter hatte Solid Snake diesen Virus injiziert, und als dieser
nacheinander mit den Zielpersonen Kontakt hatte, fielen diese dem
Retrovirus zum Opfer. Aber die Injizierung von Snake war nicht ihre Idee
gewesen - diese Anweisung kam direkt aus dem Pentagon!
DAS ZIEL DES VERTEIDIGUNGSMINISTERIUMS
Das wahre Ziel des Verteidigungsministeriums bestand darin, die Urheber
des terroristischen Aufstands selektiv zu töten. Snake brauchte nur in
Kontakt mit den Zielpersonen zu kommen. Die ihm gestellten Aufgaben, den
nuklearen Schlag aufzuhalten und die Geiseln zu retten, waren lediglich
ein Vorwand. Durch den einfachen Einsatz von Snake als
Krankheitsüberträger wollte das Pentagon mit möglichst geringem
Schadensrisiko die teuren Investitionen in Gestalt von Metal Gear und
der Körper der Genom- Soldaten retten.
Das Pentagon glaubte auch, FOXDIE würde durch seine tödliche Wirkung den
Zwischenfall erfolgreich vertuschen. Die von Naomi Hunter an dem Virus
vorgenommenen Änderungen lassen allerdings starke Zweifel an der
Zuverlässigkeit von FOXDIE aufkommen. Da nicht bekannt war, welche
Manipulationen sie vorgenommen hatte, beschloss das Pentagon, extreme
Maßnahmen gegen diese Entwicklung zu treffen.
DER BOMBER AM HORIZONT
Alamiert durch die Nachrichten über Dr. Hunters unerlaubte Änderungen
übernahm der damalige Verteidigungsminister Jim Houseman persönlich die
Missionsleitung und flog in einer AWACS in Richtung Shadow Moses. Etwa
zur gleichen Zeit startete ein Bomber mit B61-13 Luft-Boden-Raketen
hoher Durchschlagskraft von der Luftwaffenbasis Galena aus nach Alaska.
Der Verteidigungsminister hatte einen direkten Weg der Vertuschung
beschlossen.
Die Bekämpfung der Atombombe mit einer Atombombe. Dieses Prinzip deutete
auf eine Rückkehr zum Wettrüsten hin, und Snake war wütend. Er hatte es
bereits geschafft, Metal Gear REX zu zerstören, und der terroristische
Zwischenfall war in jeder Hinsicht vorüber. Sollte der Abwurf einer
Atombombe die Belohnug für all seine Mühen sein?
Der Luftangriff fand jedoch niemals statt. Jemand hatte Jim Housemans
Befehle widerrufen. Nun nehmen Sie vielleicht an, der einzige, der das
Recht besaß, die Anweisungen des Verteidigungsministers außer Kraft zu
setzen, sei sein Oberbefehlshaber, der Präsident der Vereinigten
Staaten. Aber, wie viele Dinge in diesem Bericht, ist die Wahrheit alles
andere als offensichtlich. Die Hand, die den nuklearen Schlag aufhielt,
war die einer Geheimgesellschaft!
Was ist das nun für eine Gruppe, deren Macht selbst die des amerikanischen Präsidenten übertrifft?
DAS ANTLITZ DES FEINDES
Als ich wieder zu mir kam, saß ich in der Hütte einer Wetterstation.
Über meinem Kopf war ein Leinensack gezogen und meine Hände waren hinter
dem Rücken gefesselt. So geht es also zu Ende, dachte ich düster. Ich
schleppe mich hier hoch bis in diesen äußersten Zipfel der Arktis und
sterbe dann in den Händen eines unsichtbaren Vollstreckers, ohne auch
nur das geringste herausgefunden zu haben.
Einer meiner Peiniger kam näher und durchsuchte meine innere
Brusttasche. Ich fluchte in Gedanken, denn da hatte ich die Disc von
Nastasha Romanenko mit dem ganzen Bericht über den Zwischenfall auf
Shadow Moses! Es war mein Prinzip, wichtige Dinge stets bei mir zu
tragen, um vor Diebstahl sicher zu sein. Dieses Prinzip musste ich
offensichtlich überdenken.
Der Mann fand die Disc ohne weiteres und nahm sie an sich.
„Was ist denn das?“ fragte er scharf.
„Gleich was es ist, ihr Wert ist höher als Deiner,“ antwortete ich so
drohend und so bestimmt, wie es mir mit dem Leinensack auf meinem Kopf
möglich war.
„Na schön, das ist doch schon etwas.“
Was folgte, war sehr langwierig und schmerzhaft, aber es wurde nichts
von Bedeutung gesagt, bis ich den elektrifizierenden Satz hörte. „Wir
haben die Disc wieder.“
Damit schließt sich der Kreis und wir sind wieder am Ausgangspunkt
meines Berichts angelangt. Es war unklar, wie die Disc in den Besitz von
Max Smithson bei MEGASURPRISE gelangt war, aber die Worte meiner
Peiniger wiesen daraufhin, dass die Disc ursprünglich ihnen gehört
hatte. Entweder traf dies zu, oder sie brauchten sie ganz dringend. Ich
nahm meinen ganzen Mut zusammen und begann ein Gespräch mit ihnen.
„Ihr Burschen gehört also zu der Geheimgesellschaft, deren Macht selbst
die des amerikanischen Präsidenten übertrifft? Antwortet mir, ihr
lächerlichen Pappfiguren!“
Dies hatte genau die von mir erhoffte Wirkung, denn sie bekamen einen
gewaltigen Wutanfall. Ich musste wohl ins Schwarze getroffen haben. Der
Inhalt der Disc war damit so gut wie bestätigt - dies war tatsächlich
die Gesellschaft, deren Macht selbst die des amerikanischen Präsidenten
übertraf! In meiner Freude achtete ich kaum auf die üblen
Beschimpfungen, die mir entgegengeschrien wurden, und auch nicht auf das
Geräusch einer Waffe, die aus dem Halfter gezogen wurde.
In diesem Moment schien ein kontrolliertes Chaos in der Hütte
auszubrechen. Vom Zerbrechen des Fensters bis zu dem Augenblick, in dem
ich wahrnahm, dass meine Peiniger dezimiert worden waren und ich mit
meinem Retter allein war, schienen nur Sekunden vergangen zu sein.
Wer war dieser Wirbelwind in Menschengestalt? Aus Neugier und Angst kam
mir das Essen hoch. Ich spürte den Geschmack von Erdnussbutter im Mund.
Ich hörte, wie das Rätsel auf mich zukam und mir den Leinensack vom Kopf
zog. Für einen Moment konzentrierte ich mich auf das Pochen meines
Herzens, aber dann blickte ich langsam nach oben.
Da war niemand.
Ich konnte nichts sehen oder spüren. Dennoch löste jemand die Fesseln,
die in meine Handgelenke einschnitten. Dann legten sich mir unsichtbare
Hände links und rechts auf den Kopf, als ob sie eine Krönung parodieren
wollten. Geschickt entfernten sie die Bandana, die ich als Notverband um
meinen verletzten Kopf gebunden hatte. Sie gehörte mir nicht, ich hatte
sie am Strand gefunden. Mit zitternden Händen wollte ich nach der
unsichtbaren Person greifen, aber mit einem schnellen Wink mit dem Tuch
war sie verschwunden.
Es sollten noch mehr Überraschungen folgen. Als ich behutsam meinen
steifen Kopf bewegte, spürte ich einen ungewöhnlichen Druck gegen die
Brust und entdeckte die Laserdisc, die auf wunderbare Weise wieder da
war. Aber darüber hinaus waren da noch genügend Sicherungskopien, um mir
Ehrfurcht einzuflößen und die Nähte meiner Tasche platzen zu lassen.
Ich musste an meinen geheimnisvollen Retter denken: Er besaß
übermenschliche Kampfeskräfte, war unsichtbar und konnte im Nu Discs
brennen. Da gab es nur eine mögliche Erklärung.
Es musste ein Außerirdischer sein, wahrscheinlich vom Stamme der grauen Liliputaner.
LEBEN NACH SHADOW MOSES
Und so kam ich, begleitet von meinem getreuen Thunfisch, aus der Kälte
wieder in mein winziges New Yorker Apartment. Der Vermieter erwähnte,
dass mein Nachbar, der hungerleidende Student, vor kurzem verschwunden
sei. Es könnte sein, dass ich da auf seinem PC in den falschen
Informationen herumgeschnüffelt hatte. Sollte ich ihn je lebend
wiedersehen, werde ich mich wohl entschuldigen müssen.
Ich tippe gerade dieses Manuskript auf einer uralten Schreibmaschine
ein. Dies ist die wahrheitsgemäße Wiedergabe der Fakten auf der
Laserdisc, die ich durch meine eigenen Erfahrungen auf jener
fürchterlichen Insel bestätigen konnte.
Je weiter ich mich dem Ende dieses Berichtes nähere, desto mehr kreisen
meine Gedanken um Nastasha Romanenko, die Frau, die alles wagte, indem
sie die Fakten des Zwischenfalls auf dieser Disc aufzeichnete. Ich
glaube, dass sie auf diese Weise den Opfern dieser Mission, den Opfern
von Kernwaffen in der modernen Geschichte sowie all denen eine Stimme
verleihen wollte, deren Leben durch ein umfassendes Komplott der
Regierung Schaden nahm. Ihr Testament wurde einem subversivem
Journalisten in New York übermittelt, mir, und wie sie es erträumt
hatte, wird die Wahrheit jetzt allen bekannt. Die Verantwortung für die
Weiterverbreitung der Fakten von Shadow Moses liegt jetzt bei den
geschätzten Lesern. Was werden SIE riskieren um die Wahrheit zu
erfahren?
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
Diese nichtfiktive Erzählung beruhte auf einem Tatsachenbericht von
Nastasha Romanenko, einer Militärexpertin, die an einer Geheimmission
zur Bewältigung eines terroristischen Zwischenfalls auf der Insel Shadow
Moses vor Alaska teilgenommen haben soll. Ihr Bericht wurde in seiner
ungekürzten Originalform „In der Finsternis von Shadow Moses“
veröffentlicht, nachdem dieser Band erfolgreich erschienen war.
Der Autor, Gary McGolden, ist Journalist und Schriftsteller von
Tatsachenromanen. Am bekanntesten ist wohl sein Bestseller „Die
telekinetischen Kräfte des Monsters von Loch Ness - die wahre
Energiequelle von UFOs“. Die Einzelheiten der Abenteuer von McGolden auf
Shadow Moses sind noch nicht bestätigt, aber an seiner Landung auf der
Insel mit Hilfe eines Thunfisches bestehen ernsthafte Zweifel. Vielmehr
sprechen viele Belege dafür, dass er an einer anderen kleinen Insel
mehrere Seemeilen südlich von Shadow Moses angespült wurde und diese
Tatsache nicht bemerkte.
McGolden hat sich scheinbar in Luft aufgelöst, nachdem sein Manuskript
in unserem Verlag eingetroffen war. Unserer Rechnungsabteilung ist dies
zwar sehr angenehm, aber ich hoffe doch aufrichtig, dass dieser
bekanntermaßen unberechenbare, aber auch talentierte Schriftsteller
schon eifrig an einem Folgeband arbeitet.
Obwohl bestimmte Aspekte des Buches eine weitere Überprüfung von
Tatsachen erfordern, sollte das dem Wahrheitsgehalt der meisten
grundlegenden Behauptung keinen Abbruch tun oder gar generell den Inhalt
der Disc von Nastasha Romanenko in Frage stellen. Die Leser sollten
diese Erzählung vielmehr aufgeschlossen und mit einem Gespür für das
Abenteuer annehmen, etwa so wie Gary McGolden, als er die Disc mit der
Post erhielt.
Ich muss allerdings betonen, dass sich Gary in einer Sache geirrt hat. Ich habe ihm diese Disc nicht geschickt.
Max Smithson, Chefredakteur
des Magazins MEGASURPRISE