Zwischen meinen Unterlagen habe ich plötzlich den vor langer Zeit
gesuchten Entwurf zu dem nun folgenden Weblogeintrag gefunden. Ich hatte
die Hoffnung schon aufgegeben, dieses Blatt Papier mit den in Bleistift
hingekritzelten kleinen Buchstaben in engen Zeilen überhaupt noch zu
finden. Mir war die Lust vergangen, noch einmal aufzuschreiben, was ich
damals über dieses Buch von Sarrazin beim Lesen dachte. Dabei wollte ich
doch schon längst einen ergänzenden Weblogeintrag schreiben, in welchen
ich die vor anderthalb Jahren gestartete
Umfrage einbetten kann.
Nun gut, ich werde mich wohl damit begnügen, diese Notizen einfach nur
noch abzutippen, obwohl das Thema mittlerweile verjährt ist. Vielleicht
ist es ganz gut, dass es nicht mehr aktuell ist und sich deshalb niemand
mehr dafür interessiert, dann muss ich mich wenigstens nicht mit
intellektuellen Diskussionen herumschlagen.
Ein paar kritische Anmerkungen zu
Thilo Sarrazin
Deutschland schafft sich ab
1. Zukunftsaussicht
Thilo Sarrazin nutzt Statistiken, verzeichnete Tendenzen von
Entwicklungen und bloße Mutmaßungen, um zu skizzieren, wie es seiner
Meinung nach mit Deutschland weitergehen wird. Die Annahme, dass die
deutsche Bevölkerung aussterben würde, halte ich allerdings für völlig
absurd. Das ist im Folgenden zwar ziemlich hart ausgedrückt, aber nicht
einmal die Nationalsozialisten haben es "geschafft", eine Menschenkultur
auszulöschen, obwohl ihre Maßnahmen weit effizienter waren als die
angebliche Bedrohung durch die Migration. Im Zuge der Globalisierung
werden wir multikulturell. Wieso sollen wir alle Alarmglocken läuten,
wenn Deutschland keineswegs ein Spitzenreiter dieser Multikultur ist?
Man kann demografische und andere Entwicklungen durchaus logisch
fortführen, sogar zu einem vermuteten sozialen und wirtschaftlichen
Resultat in der Zukunft. Vielleicht ist es in politischer Hinsicht sogar
angebracht, derartige Erhebungen vorzunehmen, um die Notwendigkeit
einer Reaktion auf negative Entwicklungen zu erkennen. Doch besonders
als Historiker bin ich bei allen teleologischen Konzepten vorsichtig. In
der Regel kommt es nämlich sowieso anders, als man denkt. Sarrazin hat
sich bei der Reichweite seiner Zukunftsvoraussicht enorm weit aus dem
Fenster gelehnt.
2. Standpunkt des Autors
Möglicherweise unbeabsichtigt unterstreicht Sarrazin manches Mal zu
stark seinen eigenen Standpunkt, selbst wenn er an diesem Beispiel nur
veranschaulichen möchte. An vielen Stellen wirkte dies wie eine
Zurschaustellung seiner eigenen Person. Früher sei ja ohnehin alles
besser gewesen, obgleich gerade hiermit auch ein jahrtausendealter
Generationskonflikt zu Tage tritt. Wie gesagt, das betrifft nur seine
Wirkung auf mich, weil ich das Gefühl hatte, er würde seinen eigenen
Standpunkt und die persönlichen Erfahrungen überschätzen. Ein längerer
Bericht über seine Kindheit trägt eben nicht zwangsläufig zum besseren
Verständnis oder der Anschaulichkeit des Textes bei und wird somit
überflüssig. Dennoch möchte ich mit dieser Kritik nicht das Bild
vermitteln, Sarrazin spräche in diesem Buch die meiste Zeit nur von sich
selbst. Dem ist nämlich nicht so, denn grundsätzlich hält sich
solcherlei Berichterstattung in Grenzen.
Bei den Darstellungen kam mir jedoch immer wieder ein Gedanke:
anders bedeutet nicht
besser oder
schlechter, sondern einfach nur
anders.
Es erscheint mir ungerechtfertigt, einen Zustand zu verteufeln, nur
weil eine Veränderung eingetreten ist. Heute mögen manche Wege
verschlossen sein, aber dafür eröffnen sich andere. Und damit bin ich
bei einem Schwerpunkt von Sarrazins Buch...
3. Kritik an modernen Medien
Vielfach wird im Buch kritisiert, dass Kinder fernsehen oder
Computerspiele spielen, anstatt zu lesen oder sich sportlich zu
betätigen. Natürlich finde ich, dass diese Argumente ihre Berechtigung
habe, aber trotzdem schließt das eine das andere nicht aus. Dahingehend
wurde viel zu wenig differenziert, denn immerhin sind Filme und
Videospiele meines Erachtens ebenso ein Kulturgut wie Bücher, auch wenn
vielen Älteren diese Bezeichnung besonders im Bezug auf Videospiele
vermutlich im Hals stecken bleibt. Auch Computerspiele können viel
vermitteln, den Kopf trainieren und motorische Fähigkeiten fördern. In
unserer technisierten Welt hat der Umgang mit modernen Medien ohnehin
enorm an Bedeutung gewonnen. Natürlich ist stupides Konsumieren vor dem
Fernseher keineswegs besser als das Lesen eines Buches. Aber besonders
in einer stetig moderner werdenden Welt ist es wichtig, nicht allein auf
die Medien der Vergangenheit zu verweisen, sondern die neuen Medien so
aufzuarbeiten, dass sie zunehmend eine Bereicherung und keine Last mehr
sind. Früher gingen Menschen ins Theater und wurden beim Lustspiel
unterhalten, was den Gebildeten als stupide erscheinen mochte. Heute
wird mit dem Theater fast ausschließlich ein kulturell wertvolles Gut
verbunden. Früher begann man Groschenromane und Fortsetzungsromane in
Zeitungen zu lesen und selbst zu verfassen; zum Beispiel lasen Frauen
Romane, die von einigen (insbesondere männlichen) Schichten als Schund
empfunden wurden. Heute kann man offenbar froh darüber sein, die Tendenz
zu beobachten, dass solche Filme wie "Herr der Ringe", "Harry Potter"
oder "Twilight" dazu geführt haben, dass Kinder und Jugendliche
überhaupt zu Büchern greifen.
Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass Eltern ihre Kinder in dieser
Hinsicht unterstützen. Bedauerlicherweise werden Filme, Videospiele und
Comics noch immer per se misstrauisch beäugt, wohingegen Bücher, egal
welchen Inhalts, nahezu problemlos an jede Altersgruppe vergeben werden.
Hierzu fällt mir eine in meinen Augen unglaubliche und lächerliche
Geschichte ein: die Mutter meines Schwagers erlaubte ihrer noch
minderjährigen Tochter "Die Tribute von Panem" zu lesen. Obwohl es in
diesen Büchern relativ gewalttätig zugeht, ist das nicht einmal etwas,
was ich kritisieren würde. Als besagte Tochter eines Tages jedoch mit
dem ersten Teil von "Harry Potter" nach Hause kam, den sie sich von
einem Klassenkameraden geliehen hatte, musste sie dieses Buch ungelesen
wieder zurückgeben. Es wurde ihr verboten, "Harry Potter" zu lesen, weil
darin angeblich "echte Zaubersprüche" vorkämen und Hexen schließlich
die Boten des Teufels wären. Man muss bedenken, dass es sich hier um
eine Familie aus einem kleinen Vorort in Louisiana handelt, deren
Mitglieder wegen des christlichen Glaubens äußerst vorurteilsvoll
geprägt sind und sogar die Evolutionstheorie für ausgemachten Unsinn
halten, wie übrigens nicht wenige andere Amerikaner auch.
4. Fazit
Unter der Umfrage finden sich bei den Kommentaren noch Ergänzungen zu
meiner Meinung, die ich hier nicht noch einmal aufgreife. Jetzt habe ich
kaum etwas über die Migrantenpolitik geschrieben. Es ist durchaus
interessant, dass Sarrazin manche Zusammenhänge durch Fakten darlegt.
Meiner Meinung nach sollte man jedoch eindeutig beachten, dass
"Deutschland schafft sich ab" weitaus weniger provokativ und heikel ist,
als man das bei den ganzen Debatten und dem allgemeinen Aufbegehren der
Öffentlichkeit hätte erwarten können. Ein paar Stellen sind
versuchsweise extremer formuliert, wahrscheinlich um die Diskussion
überhaupt erst einmal anzukurbeln. Möglicherweise hat man sich deshalb
auch bei der Aufmachung des Buches der allseits bekannten drei
Nazi-Farben bedient, um zusätzlich zu provozieren; ob diese Wahl jetzt
so vorteilhaft war oder nicht, sei mal dahingestellt. Die
Schwerpunktlegung und der Tonfall lassen "Deutschland schafft sich ab"
oft so objektiv erscheinen wie eine Fotografie. Man sieht eben nur das,
was der Beobachter einfängt und ins "rechte" Licht rückt.