Montag, 8. Dezember 2014

25 Jahre Mauerfall: Vorurteile zwischen Ost und West

Was wir voneinander denken und was manche über den Osten nicht wissen.

Teil 1: Vorurteile, Solidaritätszuschlag, Renten, Reparationsleistungen

25 Jahre nach dem Mauerfall ist Deutschland nach einer jahrzehntelangen Trennung zusammengewachsen und dennoch gibt es nach wie vor Unterschiede, Benachteiligungen und Vorurteile auf beiden Seiten.
Zu diesem Thema habe ich kürzlich eine Umfrage gestartet. Ich würde mich freuen, wenn noch ein paar weitere Stimmen dazukommen, obwohl mir im Nachhinein auffiel, dass leider nicht diejenigen berücksichtigt wurden, die aus dem Ausland kommen. Die Umfrage richtet sich demnach speziell an Deutsche. Bislang lautet das Fazit nüchtern zusammengefasst, dass die abstimmenden Westdeutschen prozentual weniger Vorurteile gegen Ostdeutsche haben als umgekehrt. So zumindest ergibt es sich anhand der Stimmen. Einige haben darauf hingewiesen, dass Vorurteile nicht unbedingt negativ gemeint sein müssen, einiges bewahrheitet sich allein schon durch die Sozialisation. Zudem hat sich herauskristallisiert, dass mitunter ein Lokalpatriotismus vorherrscht. Das bedeutet, es handelt sich nicht zwangsläufig um Vorurteile zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd, Großstadtbewohner gegen Kleinstadtbürger oder auch Bayern gegen den Rest Deutschlands (falls man Bayern denn zu Deutschland zählt). Das klingt scherzhaft und so ist es auch gemeint, da regionale Unterschiede und die damit einhergehenden Stellungnahmen völlig normal sind und sich in den meisten anderen Ländern ebenfalls wiederfinden.

Vorurteile von Ost über West oder von West über Ost, das ist eigentlich ein überholtes Thema, möchte man meinen. In meiner frühen Kindheit wusste ich nur, dass es Konflikte zwischen "Ossis" und "Wessis" gab, wobei mir jedoch nicht klar war, zu welcher von beiden Gattungen ich überhaupt gehörte. Heutzutage, gerade durch die mediale Vernetzung und Kommunikation, sind Abneigungen längst hinfällig, so nahm ich an. In meiner Jugend zumindest existierten schlichtweg keine Abwertungen gegenüber den "Wessis". Die ersten Erfahrungen dazu habe ich erst gemacht, als ich von 2007 bis 2009 im Ruhrgebiet bzw. Sauerland lebte. Das ist schon ein Weilchen her, darum sind einige Dinge, die ich dort zu hören bekam, mittlerweile vielleicht schon gar nicht mehr der Rede wert.
Ich persönlich mag die Vielfältigkeit Deutschlands, und die Wiedervereinigung halte ich historisch gesehen für vorbildhaft und einzigartig auf der Welt. Warum schreibe ich dann nun eine solche Stellungnahme? Weil ich leider häufig Aussagen dieser Art hören musste: Der Osten sei eine wirtschaftliche Belastung für den Westen, es wäre besser, wäre die Mauer nie gefallen, oder noch besser, sie sollte gleich wieder aufgebaut werden etc. Zum Teil ist einiges hier in diesem Beitrag deshalb ein bisschen drastisch formuliert, um diesem Tenor entgegenzuwirken. Bei der Argumentation orientiere ich mich an dem Buch Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben? Versuch einer Abschlussbilanz von Siegfried Wenzel, der einst stellvertretender Vorsitzender der Plankommission war. Seine Positionen und Schlussfolgerungen basieren größtenteils auf westdeutschen Quellen, sind distanziert, differenziert und sachlich. An dieser Stelle möchte ich also einerseits eine kleine Empfehlung für das besagte Buch aussprechen, das den wirtschaftlichen Stand vor ungefähr zehn Jahren darstellt – zu einer Zeit, als noch stark in der Öffentlichkeit von der "DDR-Pleite" die Rede war. Andererseits möchte ich über Trugschlüsse aufklären und ein paar Informationen liefern, die das Bild einer ganzdeutschen  Belastung durch den Mauerfall in einem neuen Licht betrachten lassen.
Die Weblogeinträge zu diesem Thema werde ich in mehreren Teilen liefern, sonst wird das ein bisschen viel auf einmal. Ich bemühe mich um verständliche Erklärungen, dennoch könnten manche wirtschaftlichen, ökonomischen Themen etwas schwierig zu verstehen sein. Über aufmerksame Leser würde ich mich daher sehr freuen, da es wirklich interessant werden könnte. Noch ein Hinweis: ich bin nicht unfehlbar und falls hier einige Experten herumgeistern, denen verkehrte Darstellungen, Ergänzungen oder aktuelle Informationen einfallen, wäre ich über entsprechende Kommentare sehr erfreut.


1.    Solidaritätszuschlag: Ein Päckchen, das wir alle tragen

Allererster Trugschluss, der mir sehr häufig unterkam: der Solidaritätszuschlag. Als ich noch in NRW wohnte, gab es viele Leute, die alle mit voller Inbrunst davon überzeugt waren, allein die westlichen Bundesländer müssten den Soli bezahlen, was selbstverständlich nicht stimmt. Der Solidaritätszuschlag wird und wurde seit jeher von ganz Deutschland bezahlt, von den Bürgern der alten wie der neuen Bundesländer. Hierbei muss man ebenfalls bedenken, dass bis heute, über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, die Gehälter sowie Renten der ehemaligen DDR noch immer nicht an die Westgehälter angeglichen wurden, trotz gleicher Steuern, gleicher Beiträge, sodass man im Osten weniger von seinem Geld hat, obwohl man genauso viel in den Staat investiert.
Angela Merkel verkündete erst kürzlich, dass man sich derzeit weiter bemühen werde, die Renten zwischen Ost und West einander anzugleichen – dies würde nun nur noch wenige Jahre in Anspruch nehmen. Alte Menschen, die in der ehemaligen DDR ein Leben lang gearbeitet haben, profitieren davon kaum, weil eine Rentenabsicherung damals nur ab einem bestimmten Gehalt gewährleistet wurde. Unter diesem festgelegten Satz war man in der DDR einem erzwungenen Freibetrag ausgesetzt. Kurz gesagt heißt das, wer zu wenig verdiente, konnte keine Rücklagen für die Rente einzahlen und später auch nichts geltend machen, hatte also trotz Arbeit quasi niemals eingezahlt. Betrachtet man das vielfach geringere Gehalt und den Wertverfall dessen, wovon man sich damals noch einiges leisten konnte, sind durch die Inflationsrate die letzten fünf bis zehn Jahre vor der Rente am entscheidendsten. Wer früher in Rente gehen musste, weil ihm nach dem Mauerfall beispielsweise die Arbeitsbefugnis oder der Abschluss in der Ausbildung bzw. dem Studium aberkannt wurde, erhält lediglich den am vormals geringen Gehalt – zumindest nach heutigem Maß – errechneten Rentenbetrag, der nicht selten unter 1000 Euro liegt, trotz jahrzehntelanger Arbeit. Zugegebenermaßen hilft das nicht über die allgemein geringen Renten hinweg, die ebenso im Westen besonders Frauen im hohen Alter erhalten, weil sie häufiger als Frauen im Osten keiner Arbeit nachgingen und keine Sozialleistungen in Anspruch nahmen, aber das gehört zu einem anderen Thema.
Fakt ist jedenfalls, um zum Soli zurückzukommen, dass seit einigen Jahren laut Umfragen sowohl im Osten als auch im Westen die Bürger der Meinung sind, man könne den Solidaritätszuschlag abschaffen. Wie in Deutschland, dem Spitzenreiter im Erheben von Steuern, nicht anders zu erwarten, stellt sich in erster Linie die Regierung quer, die nicht gern Geld wieder hergibt, das sie einmal rechtlich erwirtschaften kann. Die Lösung hierzu lautet, dass man den Soli unabhängig von der Region überall nach Notwendigkeit einsetzt, da ihn ohnehin alle bezahlen und mittlerweile die Infrastruktur in weiten Teilen Deutschlands auf gleiches Niveau gebracht wurde und es im Westen genauso wie im Osten Verbesserungsbedarf gibt.

Kleiner Nachtrag aufgrund einer Kommentaranmerkung:
Nicht verwechseln sollte man den Solidaritätszuschlag mit dem Solidarpakt, der wiederum nicht von den einzelnen Bürgern, sondern vom Bund getragen wird. Diese Unterstützungen kommen zu großen Teilen, aber nicht ausschließlich den neuen Bundesländern nach Bedarf zugute. Anfangs bis 2004 geplant laufen die Unterstützungsleistungen nun noch voraussichtlich bis 2019. Wie nötig und sinnvoll das ist, kann offenbar nicht einmal der Bund genau sagen, da die Länder und Einrichtungen das ihnen zur Verfügung gestellte Geld nicht immer den Anforderungen entsprechend einsetzen. Ähnlich wie bei der Treuhand, auf die ich in meinem dritten und letzten Beitrag eingehen werde, scheitert das Unternehmen an Bürokratie und privater Befugnis, wobei das Ausmaß der Veruntreuung bei der Treuhandanstalt natürlich um ein Vielfaches beträchtlicher war.


2.    Reparationsleistungen: Ein Päckchen, das der Osten fast allein trug

Nächstes Standardargument, weshalb die DDR angeblich nicht viel beizusteuern und von der BRD quasi wieder aufgepäppelt werden musste, ist die Demontage der Schwerindustrie und zahlreicher technischer Geräte. Durch die Demontagen boten sich, um das kurz anzumerken, auch Vorteile. Alles musste neu aufgebaut und modernisiert werden. Bestandenes wurde nicht ausgebessert, sondern komplett ausgetauscht. Wenn man sich häufig die Frage stellt, warum in den alten Bundesländern vieles noch tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes "alt" ist, liegt das daran, dass es instandgehalten werden konnte und nicht ersetzt werden musste. Dahinter stehen allerdings noch ein paar weitere Tatsachen. Die Reparationsforderungen der UdSSR wurden von der DDR allein getragen, ohne Beteiligung der BRD. Wären die Regionen nicht aufgeteilt worden, hätte ganz Deutschland diese Reparationsleistungen tragen müssen. Das ist demzufolge ein – lediglich an den Forderungen der UdSSR gemessen mehr oder weniger gerechter – Verlust, den beide Teile Deutschlands zu tragen haben. Für den Wiederaufbau mussten Investitionen vorgenommen werden; in der BRD geschah dies direkt nach dem Krieg. Durch die Teilung wurden indes keine Gelder für die DDR ausgegeben, die erst nach der Wiedervereinigung flossen. Das entspricht einer Aufschiebung, keiner Belastung, die ohnehin angefallen wäre, hätte Russland nicht für eine Isolierung gesorgt.

99,1 Mrd. DM (1953) Reparationen der DDR stehen 2,1 Mrd. DM der Bundesrepublik Deutschland gegenüber. Die DDR trug also 97 – 98 % der Reparationslast Gesamtdeutschlands. Damit entfielen auf jeden Einwohner vom Kind bis zum Greis in der DDR 5.500 DM Reparationen, in der Bundesrepublik hingegen 440 DM (zum Wert 1953) – in der DDR also pro Einwohner mehr als das Dreizehnfache.
Diese Angaben finden sich wieder in einem Aufruf an die Regierung der Bundesrepublik zur Zahlung ihrer Reparations-Ausgleichs-Schuld an die Menschen der ehemaligen DDR, datiert mit der Jahreswende 1989/90, initiiert von dem Bremer Wissenschaftler Prof. A. Peters und unterschrieben von zwölf Wissenschaftlern und Politikern der alten Bundesländer. Daraus wird abgeleitet: Wenn die Reparationsleistungen gleichmäßig auf die Bürger ganz Deutschlands verteilt worden wären, ergäbe sich folgendes: Unter Berücksichtigung einer Verzinsung von 6 ⅝ Prozent (wie sie die DDR für den ihr vom Bundesfinanzministerium über deutsche Großbanken 1983 – 1988 gewährten Kredit zu zahlen hatte) ergibt sich eine Ausgleichszahlung der BRD an die Bürger der DDR in Höhe von 727,1 Mrd. DM zum Wert von 1989 als ein objektiv völlig gerechtfertigter Lastenausgleich.
Interessanterweise ist das etwa die gleiche Summe, die das Wirtschaftskomitee der Regierung Modrow errechnet hatte, um auf die Grundlage eines damals noch favorisierten Stufenplanes der Wiedervereinigung die Arbeitsproduktivität, die materielle Produktionsbasis und die Infrastruktur der DDR bis 1995 auf etwa 80 – 90 Prozent des BRD-Niveaus von 1989/90 heranzuführen.
Auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung seines Memorandums am 28. 11. 1989 in Bonn sagte Prof. A. Peters: "Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass wir, wenn wir jetzt der DDR Ressourcen zur Verfügung stellen, das nicht unter der Überschrift 'Hilfe' oder gar 'altruistische Hilfe' subsumieren können." Die BRD müsse sich als Treuhänder ansehen "für die Bevölkerung der DDR in Bezug auf ein gewissermaßen gespartes Kapital, mit dem wir ja arbeiten konnten. Und dieses Treugut muss man natürlich zurückgeben."
Klaus v. Dohnanyi, Ex-Bürgermeister von Hamburg und einer der Hauptberater der Treuhandanstalt, sagte dies auf einem Kongress führender Manager im Dezember 1992 in Leipzig noch drastischer: "Es geht nicht, dass der östliche Teil Deutschlands, der den Krieg bezahlt hat, auch noch den Frieden bezahlen muss."
Wie hellsichtig klingt in der sprüchereichen Zeit der deutschen Wiedervereinigung dazu der Ausspruch des Altbundespräsidenten Richard v. Weizsäcker, fast wie ein Menetekel: "Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden."

Hier geht es zu den nächsten zwei Beiträgen:
Teil 2: Humankapital, Verschuldung pro Kopf
Teil 3: Eine Kriminalgeschichte der Treuhandanstalt

Sonntag, 5. Oktober 2014

Heilige Schriften und andere Märchen

Nach alledem ist dieser Gott ein launenhaftes Wesen, welches das von ihm geschaffene Geschöpf dem Verderben weiht. Wie fürchterlich, welch ein Ungeheuer ist ein solcher Gott! Gegen ihn müssten wir uns empören. Nicht zufrieden mit einer so großen Aufgabe, ertränkt er den Menschen, um ihn zu bekehren, er verbrennt, er verflucht ihn, er ändert nichts daran, dieser hohe Gott, ja er duldet ein noch viel mächtigeres Wesen neben sich, indem er das Reich Satans aufrecht erhält, welcher seinem Erschaffer zu trotzen vermag, der imstande ist, die Geschöpfe, die sich Gott auserkoren, zu verderben und zu verführen. Denn nichts vermag die Energie Satans über uns zu besiegen. So hat ihn die Religion geschaffen, samt seinem einzigen Sohne, den er vom Himmel herabgeschickt und in einen sterblichen Leib bannt. Man wäre geneigt zu glauben, dieser Sohn Gottes müsste die Erde inmitten eines Engelchores, beleuchtet von glänzenden Strahlen betreten. Aber nein, er wird von einer sündhaften Jüdin in einem Stalle geboren. Wird uns seine ehrenvolle Sendung vor dem ewigen Tod retten? Folgen wir ihm, sehen wir, was er tut, hören wir, was er spricht! Welche erhabene Mission vollführt er? Welches Geheimnis offenbart er uns? Welche Lehre predigt er uns? Durch welche Tat lässt er uns seine Größe erkennen? Wir sehen vor allem eine unbekannte Kindheit, einige Dienste, die er den jüdischen Priestern des Tempels von Jerusalem leistet, dann ein 15jähriges Verschwinden, während welcher Zeit er sich vom alten ägyptischen Kultus vergiften lässt, den er nach Judäa bringt. Er geht so weit, sich für einen Sohn Gottes zu erklären, der dem Vater an Macht gleich ist; er verbindet mit diesem Bündnis die Erschaffung eines dritten Wesens, des Heiligen Geistes, indem er uns glauben machen will, diese drei Personen seien nur eine. Er sagt, er habe eine menschliche Form angenommen, um uns zu retten. Der sublime Geist musste also Materie, Fleisch werden und setzt die einfältige Welt durch seine Wunder in Erstaunen.
Während eines Abendmahles betrunkener Männer verwandelt er Wasser in Wein. Er speist in einer Wüste einige Faseler mit den von ihm verborgen gehaltenen Lebensmitteln. Einer von seinen Genossen spielt den Toten, um sich von ihm erwecken zu lassen. Er besteigt in Gegenwart zweier oder dreier seiner Freunde einen Berg und führt hier ungeschickte Taschenspielerkunststücke aus, deren sich jetzt ein Tausendkünstler schämen müsste. Dabei aber verflucht er alle, die ihm nicht glauben wollen, er verspricht den Gläubigen das Himmelreich. Er hinterlässt nichts Geschriebenes, spricht sehr wenig und tut noch weniger. Dennoch bringt er durch seine aufrührerischen Reden die Behörden auf und wird endlich gekreuzigt. In seinen letzten Augenblicken verspricht er seinen Gläubigen, zu erscheinen, so oft sie ihn anrufen, um sich von ihnen – essen zu lassen. Er lässt sich also hinrichten, ohne dass sein Herr Papa, dieser erhabene Gott, auch nur das Geringste täte, um ihn vor dem schimpflichen Tode zu retten. Seine Anhänger versammeln sich jetzt und sagen, die Menschheit sei verloren, wenn sie dieselbe durch einen auffallenden Handstreich nicht retteten. Lasst uns die Grabwächter einschläfern, stehlen wird den Leichnam, verkünden wir seine Auferstehung! Dies ist ein sicheres Mittel, um an dieses Wunder glauben zu machen; es soll uns dazu helfen, die neue Lehre zu verbreiten. Der Streich gelingt. Alle Einfältigen, die Weiber und Kinder faseln von einem geschehenen Wunder und dennoch will niemand an diesen Gott glauben. Nicht ein Mensch lässt sich bekehren. Man veröffentlicht das Leben Jesu. Dieser schale Roman findet Menschen, die ihn für Wahrheit halten. Seine Apostel legen ihrem selbsterschaffenen Erlöser Worte in den Mund, an die er niemals gedacht hat. Einige überspannte Maximen werden zur Basis ihrer Moral gemacht, und da man dies alles Bettlern verkündet, so wird die Liebe des Nächsten und Wohltätigkeit zur ersten Tugend erhoben. Verschiedene bizarre Zeremonien werden unter der Benennung „Sakramente“ eingeführt, unter welchen die unsinnigste die ist, dass ein sündenbelasteter Priester mittels einiger Worte, eines Galimathias, ein Stück Brot in den Leib Jesu verwandelt.

Der Marquis de Sade. Eine Kultur- und Sittengeschichte von Eugen Dühren

Montag, 1. September 2014

Das Buch der Weisheit


Es heißt, wer dieses Buch, das von einem unbekannten Autor in lateinischer Sprache verfasst wurde, in seinen Besitz bringt, erfährt damit die allumfassende Wahrheit über diese Welt und erhält die Weisheit, wie sie sonst nur ein das menschliche Dasein transzendierendes göttliches Wesen besitzen kann. Man sagt, wer von dem Buch der Weisheit auserwählt wird, erlangt entweder die Weisheit, mit der er diese Welt regieren und beherrschen kann, oder aber ihn überkommt die fatale Eingebung, diese Welt zugrunde zu richten.

"Dieses Buch bringt das wahre Potenzial, das im Gehirn eines Kindes steckt, zum Vorschein. Unter geistig Behinderten oder Autisten gibt es in seltenen Fällen Menschen, die über außergewöhnliche Rechenfähigkeiten oder übermenschliches Erinnerungsvermögen verfügen. Im Grunde schlummert im Gehirn eines jeden Menschen ein solches Potenzial.
In diesem Buch wird beschrieben, welche Umstände nötig sind, um durch neue Verknüpfungen das Gehirn so umzupolen, dass es in der Lage ist, dieses Potenzial a posteriori auszureizen. Der Verfasser dieses Buches muss also ein ganz besonderes Genie gewesen sein... Vielleicht war er aber auch der Teufel?
Erinnerungsvermögen, Rechenfähigkeiten und dergleichen gehörten zu den Dingen, mit denen Religionsführer und Staatsmänner seit jeher das unwissende Volk geführt haben. Wer im Besitz dieser Fähigkeiten ist, hat jedoch gar nicht die Absicht, die Welt zu verbessern.
In uns könnte sehr schnell der Wunsch aufkommen, anstelle der ignoranten Erwachsenen über die Menschheit zu herrschen. Wenn wir das wollten, wäre das ein Leichtes für uns. Wir müssten einfach nur bei der Wirtschaft ansetzen. Erst durch schlaue Investitionen Geldmittel anhäufen und mit Termingeschäften weiter vermehren. Damit sind selbst in kurzer Zeit große Gewinne zu machen. Mit genügend Geld ist es dann ein Leichtes, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Dann zettelt man in politisch instabilen Ländern Kriege an und macht auf diese Weise wiederum Profit. Man kann sich auch die Religion zunutze machen. Menschen in Sorgen und Not sind so leicht zu beeinflussen.
Aber wir werden das nicht tun. Denn was hätten wir denn davon, wenn wir die Menschheit beherrschten?
Wir wären damit Tag und Nacht beschäftigt. Aber wofür? Wir müssten schwer dafür arbeiten, die Herrscher der Welt zu werden, nur um dann womöglich Opfer von Attentaten durch unsere Untergebenen zu werden. Warum sollte es unsere Aufgabe sein, das ignorante Volk anzuführen? Da uns die Menschheit doch nur Steine in den Weg legt, wo sie nur kann. Wenn man sich die Wahrscheinlichkeit vor Augen hält, dass das alles gut für uns ausgeht, scheint das den ganzen Aufwand nicht wert. Und sollte es doch klappen und wir eines Tages unermessliche Reichtümer angehäuft haben, was machen wir dann? Uns auf die faule Haut legen und das Leben genießen? Das können wir auch jetzt schon. Völlig ohne die ganze Vorarbeit. Es wäre einfach nur dumm, sich solche Anstrengungen aufzubürden."

Der Grund, warum das Buch der Weisheit keine Gefahr darstellt, lässt sich mit einer einfachen Metapher veranschaulichen: Mit dem Spiel Drei gewinnt.

o o x
x x o
o o x

Alle Kinder spielen dieses Spiel mit großer Begeisterung. Als Erwachsener spielt dieses Spiel jedoch so gut wie niemand mehr. Warum ist das so?
Weil man nach einer gewissen Weile erkennt, dass dieses Spiel immer in einem Unentschieden endet, wenn man weiß, was man tun muss, ganz egal, ob man das Spiel als erster Spieler beginnt, und ganz egal, ob man als Kreuz oder als Kreis spielt.
Das kann man nun leicht auf die Kinder übertragen, die durch das Buch der Weisheit mit dem Verstand eines Genies gesegnet wurden. Wer das Buch der Weisheit liest und dadurch mit einem brillanten Verstand ausgestattet ist, wird sich unweigerlich für ein Leben des Nichtstuns entscheiden, weil alles ohnehin keinen Unterschied mehr macht.
Das Leben ist wie ein Spiel, aber man hat dabei nur einen Versuch. Wer die Zukunft nicht kennt, kann sich an Neuem versuchen, weil er zumindest weiß, dass nach einem Scheitern neue Möglichkeiten warten. Menschen mit außergewöhnlichem Intellekt neigen tendenziell eher zu Angstzuständen und Depressionen. Sie verzweifeln vermehrt an der hohen Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns, bevor sie sich einer Herausforderung stellen, was sie letzten Endes handlungsunfähig macht.
Vielleicht sollte man von den Menschen, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte einen Namen gemacht haben, weniger als Genies denken, sondern vielmehr einfach als Menschen, die nicht recht Verzicht üben konnten und besonders ausdauernd waren.

Bibliotheca Mystica von Mikumo Gakuto

Samstag, 23. August 2014

Zamonische Zahlensysteme

Da die meisten Zamonier an jeder Hand vier Finger haben, basiert die zamonische Urmathematik auf der Zahl Vier. Es gibt die Zahlen Eins, Zwei, Drei, Vier und Doppelvier, die eigentlich Acht bedeutet. Die dazwischenliegenden Zahlen Fünf, Sechs und Sieben werden von der zamonischen Urmathematik als "Unzahlen" verachtet, sie streitet die Existenz dieser Zahlen schlichtweg ab. Auf die Doppelvier (8) folgt die Doppeldoppelvier (16), darauf die Doppeldoppeldoppelvier (32), darauf die Doppeldoppeldoppeldoppelvier (64) und so weiter - ein System, das offensichtlich auf der Multiplikation von durch vier teilbaren Zahlen basiert.
Die zamonische Urmathematik leugnet weiterhin alle Zahlen, die zwischen Doppelvier (8) und Doppeldoppelvier (16) sowie zwischen Doppeldoppelvier (16) und Doppeldoppeldoppelvier (32) liegen, sowie die zwischen Doppeldoppeldoppelvier (32) und Doppeldoppeldoppeldoppelvier (64) - und so weiter, bis ins Unendliche. Die zamonische Urmathematik lehnt also insgesamt ziemlich viele Zahlen ab - eigentlich die meisten. Sie gilt daher als das ungenaueste aller Rechensysteme.
Die zamonischen Druiden hingegen akzeptieren nur eine einzige Zahl, die sie Olz nennen. Olz ist die Anzahl von Druidenseelen, die angeblich gleichzeitig durch ein Schlüsselloch passen, und das ist eine sehr hohe, eigentlich nur für Druiden erfassbare Summe. Weil die Zahl so hoch ist, muss der Druide im alltäglichen Bereich mit Bruchteilen von einem Olz rechnen - die druidische Mathematik basiert also auf dem Dividieren von Olzen. Die kleinste druidische Zahl (außer dem Nicht-Olz, das kein einziges Teil eines Olzes bedeutet und der arabischen Null vergleichbar ist) ist das Ukzilliarden-Olz, also der ukzilliardenste Teil eines Olzes. Eine Ukzilliarde entspricht übrigens einer Million Ukzillionen.
Ganz anders rechnen die Rikschadämonen, sie vertreten die gruseligste Mathematik Zamoniens und zählen in Schrecksekunden: Das ist die Dauer, die ein durchschnittliches Haar braucht, um sich beim Erschrecken aufzurichten (ungefähr 0,3 Sekunden). Diese Zahleneinheit nennen sie 1 Horror, zehn Horror bedeuten einen leichten Schreck, hundert Horror einen Schock und tausend Horror einen Herzinfarkt.
Die umständlichste Mathematik Zamoniens wird aber von den Fhernhachen praktiziert: Sie rechnen in Zuneigungen, und deswegen können sie nur zählen, wenn sie mindestens zu zweit sind. Eine Zuneigung wird durch das Aneinanderreiben von zwei Fhernhachen-Nasen repräsentiert, zwei Zuneigungen durch das zweimalige Reiben und so weiter. Außerdem gehören die Fhernhachen zu den wenigen Anhängern der zamonischen Urmathematik, weshalb sie immer bis Vier abzählen statt bis Drei.
Ensel und Krete von Walter Moers

Samstag, 16. August 2014

Die sieben Grundtugenden des Dichters

1. Furcht
Die Furcht ist außer der Schwerkraft die mächtigste Kraft im Universum. Die Schwerkraft setzt den toten Gegenstand in Bewegung, die Furcht das lebende Wesen. Nur der Furchtsame ist zu Großem befähigt, der Furchtlose kennt keinen Antrieb und verliert sich im Müßiggang.

2. Mut
Das scheint der ersten Grundtugend zu widersprechen, aber man braucht Mut, um die Furcht zu überwinden. Man braucht Mut, um den Fährnissen der literarischen Unternehmung standzuhalten, als da sind: Schreibhemmung, unsensible Lektoren, zahlungsunwillige Verleger, gehässige Kritiker, niedrige Verkaufszahlen, ausbleibende Preise usw.

3. Vorstellungskraft
Es gibt genügend zamonische Schriftsteller, die sehr gut ohne diese Tugend durchkommen, man erkennt sie daran, dass ihre Werke vorwiegend um sie selbst kreisen oder von aktuellen Ereignissen handeln. Diese Schriftsteller schreiben nicht, sie schreiben nur auf, langweilige Stereotypisten ihrer selbst und der Alltäglichkeit.

4. Orm
Genau genommen keine echte Tugend, eher eine geheimnisvolle Macht, die jeden guten Schriftsteller umgibt wie eine Aura. Niemand kann sie sehen, aber der Dichter kann sie spüren. Orm, das ist die Kraft, die einen die ganze Nacht wie im Fieber schreiben, einen tagelang an einem einzigen Satz feilen, einen das Lektorat eines dreitausendseitigen Romans lebend überstehen lässt. Orm, das sind die unsichtbaren Dämonen, die um den Dichtenden tanzen und ihn auf seine Arbeit bannen. Orm, das ist der Rausch und das Brennen. (Ormlose Dichter siehe unter 3.)

5. Verzweiflung
Der Humus, der Torf, der Kompost der Literatur, das ist die Verzweiflung. Zweifel an der Arbeit, an den Kollegen, am eigenen Verstand, an der Welt, am Literaturbetrieb, an allem. Ich habe es mir zur Regel gemacht, mindestens einmal pro Tag für mindestens fünf Minuten an irgendetwas zu verzweifeln, und sei es nur an den Kochkünsten meiner Haushälterin. Das damit einhergehende Lamentieren, Händegegenhimmelwerfen und Blutwallen sorgt übrigens für die notwendige körperliche Betätigung, die ja ansonsten im schriftstellerischen Leben chronisch zu kurz kommt.

6. Verlogenheit
Ja, sehen wir der Sache ruhig ins Gesicht: Alle gute Literatur lügt. Beziehungsweise: Gute Literatur lügt gut, schlechte Literatur lügt schlecht - aber die Unwahrheit sagen beide. Schon der bloße Vorsatz, die Wahrheit in Worte fassen zu wollen, ist eine Lüge.

7. Gesetzlosigkeit
Jawohl, der Dichter gehorcht keinen Gesetzen, nicht einmal denen der Natur. Frei von allen Fesseln muss sein Schreiben sein, damit seine Dichtung fliegen kann. Gesellschaftliche Gesetze sind ebenfalls verpönt, besonders die von Anstand und Sitte. Und auch moralischen Gesetzen darf sich der Dichter nicht unterwerfen, damit er gewissenlos das Werk seiner Vorgänger plündern kann - Leichenfledderer sind wir alle.

Ensel und Krete von Walter Moers

Montag, 11. August 2014

Wissen aus Gewohnheit

Die Dinge haben ihren eigenen Charakter. Immer ist uns die Hälfte verborgen. Die Flasche Sprudel, der Bleistift, die Lampe, alles sehen wir nur halb, nur von vorn, von schräg vorn, von oben, aber nie komplett, nie ganz. Die wahren, die vollkommenen Dinge liegen immer im Dunkeln. Wir sind begrenzte Wesen. Wenn ich die Flasche greife, um aus ihr zu trinken, woher weiß ich, dass sie eine Rückseite hat? Ich stelle mir die Rückseite nur vor. Ich bilde sie mir ein. Ich gehe einfach davon aus, dass es sie gibt. Ich tue so, als ob ich es sicher wüsste. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Zimmermädchen von Markus Orths

Montag, 16. Juni 2014

Mit einer Ananas im Arm

Eriko erzählt von ihrer krebskranken Frau.
"Eines Tages sagte meine Frau, sie wolle irgendwas Lebendiges in ihrem Krankenzimmer haben. Etwas, das lebt, das die Sonne braucht. Eine Pflanze, ja, eine Pflanze, das ist eine gute Idee, hat sie gesagt. Kauf eine in einem großen Topf, am besten eine, die leicht zu pflegen ist. Und da meine Frau bis dahin nie einen Wunsch geäußert hatte, bin ich sofort losmarschiert zum Blumenladen. Ich als Mann kannte damals natürlich nur sowas wie Veilchen oder den Ficus, und irgend so ein Kaktus, hab ich mir überlegt, ist ja wohl auch nicht das Wahre. So kaufte ich schließlich eine Ananaspflanze. Sie hatte schon ganz kleine Früchte, und man konnte sie sofort daran erkennen. Meine Frau hat sich unglaublich gefreut und sich immer wieder bedankt.
Als sie ins Endstadium kam, drei Tage vor dem Koma, bat sie mich plötzlich, bevor ich nach Hause ging: >Nimm bitte die Ananas mit.< Rein äußerlich sah man ihr gar nicht an, wie schlecht es ihr ging, und wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, dass sie Krebs hatte, aber irgendwie klangen ihre ganz leise geflüsterten Worte so, als seien es ihre letzten. Ich war richtig erschrocken und sagte, sie solle die Pflanze doch dabehalten, auch wenn sie vertrocknen würde. Doch sie meinte, sie könne der Pflanze kein Wasser mehr geben, und unter Tränen bat sie mich, diese Pflanze aus einem südlichen Land mitzunehmen, bevor sich der Tod in ihr einnisten könne. Da nahm ich die Ananas mit nach Hause.
Ich kann dir sagen, auch wenn ich ein Mann war, ich habe geheult wie ein Schlosshund. Obwohl es draußen wahnsinnig kalt war, hab ich es nicht geschafft, in ein Taxi zu steigen. Damals habe ich wahrscheinlich auch zum ersten Mal gespürt, wie sehr ich es hasste, ein Mann zu sein. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, bin ich zum Bahnhof gelaufen, hab in einer Kneipe etwas getrunken und wollte dann mit der Bahn nach Hause fahren. Es war schon spät, und auf dem Bahnsteig befanden sich nur wenige Menschen. Ein eisiger Wind wehte, und ich stand da, die Ananas mit ihren stacheligen Blättern an meine Wange gedrückt, und zitterte. Auf dieser Welt - davon war ich im Innersten meines Herzens überzeugt - gab es an diesem Abend keine zwei Wesen, die sich besser verstanden als ich und diese Ananas. Als ich die Augen schloss, als mir der kalte Wind um die Ohren pfiff, waren es nur wir beide, die diese Einsamkeit empfanden... Und meiner Frau, die dies besser begriffen hätte als jeder andere, war der Tod näher als ich oder die Ananas.
Kurz darauf starb sie. Die Ananas vertrocknete. Unerfahren wie ich war, hatte ich der Pflanze zu viel Wasser gegeben. Ich hab sie in eine Ecke des Gartens abgeschoben, doch plötzlich, ich kann gar nicht sagen, was es war, hab ich etwas begriffen. Wenn ich dir das so erzähle, klingt es wahrscheinlich ziemlich banal. Ich habe begriffen, dass ich nicht der Mittelpunkt der Welt bin. Ich habe gemerkt, dass, was immer ich auch tue, unangenehme Dinge auf mich einstürzen. Nicht wir bestimmen schließlich darüber. Aus diesem Grund habe ich mich auch gefragt, ob es nicht besser wäre, alles Bisherige aufzugeben und so unbeschwert wie möglich zu leben.
...Tja, und dann bin ich, wie du siehst, eine Frau geworden."

Vollmond (Kitchen 2) von Banana Yoshimoto

Dienstag, 8. April 2014

Hama rikyu onshi teien

I'm glad I'm not invited
To your pity party
Yes, in fact, I'm delighted
'Cause it's a heavy scene
Can't you see there's a world out there?
Don't be scared
(Placebo)

Dienstag, 11. Februar 2014

Kyoto

Ich sehe das, wovor ich fliehen wollte,
Sich meinen Schreien entgegenstellen,
Sie überschreien,
Seh meine eigene Seele das mit Füßen treten,
worum sie bat.
(Walt Whitman)