Montag, 8. Dezember 2014

25 Jahre Mauerfall: Vorurteile zwischen Ost und West

Was wir voneinander denken und was manche über den Osten nicht wissen.

Teil 1: Vorurteile, Solidaritätszuschlag, Renten, Reparationsleistungen

25 Jahre nach dem Mauerfall ist Deutschland nach einer jahrzehntelangen Trennung zusammengewachsen und dennoch gibt es nach wie vor Unterschiede, Benachteiligungen und Vorurteile auf beiden Seiten.
Zu diesem Thema habe ich kürzlich eine Umfrage gestartet. Ich würde mich freuen, wenn noch ein paar weitere Stimmen dazukommen, obwohl mir im Nachhinein auffiel, dass leider nicht diejenigen berücksichtigt wurden, die aus dem Ausland kommen. Die Umfrage richtet sich demnach speziell an Deutsche. Bislang lautet das Fazit nüchtern zusammengefasst, dass die abstimmenden Westdeutschen prozentual weniger Vorurteile gegen Ostdeutsche haben als umgekehrt. So zumindest ergibt es sich anhand der Stimmen. Einige haben darauf hingewiesen, dass Vorurteile nicht unbedingt negativ gemeint sein müssen, einiges bewahrheitet sich allein schon durch die Sozialisation. Zudem hat sich herauskristallisiert, dass mitunter ein Lokalpatriotismus vorherrscht. Das bedeutet, es handelt sich nicht zwangsläufig um Vorurteile zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd, Großstadtbewohner gegen Kleinstadtbürger oder auch Bayern gegen den Rest Deutschlands (falls man Bayern denn zu Deutschland zählt). Das klingt scherzhaft und so ist es auch gemeint, da regionale Unterschiede und die damit einhergehenden Stellungnahmen völlig normal sind und sich in den meisten anderen Ländern ebenfalls wiederfinden.

Vorurteile von Ost über West oder von West über Ost, das ist eigentlich ein überholtes Thema, möchte man meinen. In meiner frühen Kindheit wusste ich nur, dass es Konflikte zwischen "Ossis" und "Wessis" gab, wobei mir jedoch nicht klar war, zu welcher von beiden Gattungen ich überhaupt gehörte. Heutzutage, gerade durch die mediale Vernetzung und Kommunikation, sind Abneigungen längst hinfällig, so nahm ich an. In meiner Jugend zumindest existierten schlichtweg keine Abwertungen gegenüber den "Wessis". Die ersten Erfahrungen dazu habe ich erst gemacht, als ich von 2007 bis 2009 im Ruhrgebiet bzw. Sauerland lebte. Das ist schon ein Weilchen her, darum sind einige Dinge, die ich dort zu hören bekam, mittlerweile vielleicht schon gar nicht mehr der Rede wert.
Ich persönlich mag die Vielfältigkeit Deutschlands, und die Wiedervereinigung halte ich historisch gesehen für vorbildhaft und einzigartig auf der Welt. Warum schreibe ich dann nun eine solche Stellungnahme? Weil ich leider häufig Aussagen dieser Art hören musste: Der Osten sei eine wirtschaftliche Belastung für den Westen, es wäre besser, wäre die Mauer nie gefallen, oder noch besser, sie sollte gleich wieder aufgebaut werden etc. Zum Teil ist einiges hier in diesem Beitrag deshalb ein bisschen drastisch formuliert, um diesem Tenor entgegenzuwirken. Bei der Argumentation orientiere ich mich an dem Buch Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben? Versuch einer Abschlussbilanz von Siegfried Wenzel, der einst stellvertretender Vorsitzender der Plankommission war. Seine Positionen und Schlussfolgerungen basieren größtenteils auf westdeutschen Quellen, sind distanziert, differenziert und sachlich. An dieser Stelle möchte ich also einerseits eine kleine Empfehlung für das besagte Buch aussprechen, das den wirtschaftlichen Stand vor ungefähr zehn Jahren darstellt – zu einer Zeit, als noch stark in der Öffentlichkeit von der "DDR-Pleite" die Rede war. Andererseits möchte ich über Trugschlüsse aufklären und ein paar Informationen liefern, die das Bild einer ganzdeutschen  Belastung durch den Mauerfall in einem neuen Licht betrachten lassen.
Die Weblogeinträge zu diesem Thema werde ich in mehreren Teilen liefern, sonst wird das ein bisschen viel auf einmal. Ich bemühe mich um verständliche Erklärungen, dennoch könnten manche wirtschaftlichen, ökonomischen Themen etwas schwierig zu verstehen sein. Über aufmerksame Leser würde ich mich daher sehr freuen, da es wirklich interessant werden könnte. Noch ein Hinweis: ich bin nicht unfehlbar und falls hier einige Experten herumgeistern, denen verkehrte Darstellungen, Ergänzungen oder aktuelle Informationen einfallen, wäre ich über entsprechende Kommentare sehr erfreut.


1.    Solidaritätszuschlag: Ein Päckchen, das wir alle tragen

Allererster Trugschluss, der mir sehr häufig unterkam: der Solidaritätszuschlag. Als ich noch in NRW wohnte, gab es viele Leute, die alle mit voller Inbrunst davon überzeugt waren, allein die westlichen Bundesländer müssten den Soli bezahlen, was selbstverständlich nicht stimmt. Der Solidaritätszuschlag wird und wurde seit jeher von ganz Deutschland bezahlt, von den Bürgern der alten wie der neuen Bundesländer. Hierbei muss man ebenfalls bedenken, dass bis heute, über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, die Gehälter sowie Renten der ehemaligen DDR noch immer nicht an die Westgehälter angeglichen wurden, trotz gleicher Steuern, gleicher Beiträge, sodass man im Osten weniger von seinem Geld hat, obwohl man genauso viel in den Staat investiert.
Angela Merkel verkündete erst kürzlich, dass man sich derzeit weiter bemühen werde, die Renten zwischen Ost und West einander anzugleichen – dies würde nun nur noch wenige Jahre in Anspruch nehmen. Alte Menschen, die in der ehemaligen DDR ein Leben lang gearbeitet haben, profitieren davon kaum, weil eine Rentenabsicherung damals nur ab einem bestimmten Gehalt gewährleistet wurde. Unter diesem festgelegten Satz war man in der DDR einem erzwungenen Freibetrag ausgesetzt. Kurz gesagt heißt das, wer zu wenig verdiente, konnte keine Rücklagen für die Rente einzahlen und später auch nichts geltend machen, hatte also trotz Arbeit quasi niemals eingezahlt. Betrachtet man das vielfach geringere Gehalt und den Wertverfall dessen, wovon man sich damals noch einiges leisten konnte, sind durch die Inflationsrate die letzten fünf bis zehn Jahre vor der Rente am entscheidendsten. Wer früher in Rente gehen musste, weil ihm nach dem Mauerfall beispielsweise die Arbeitsbefugnis oder der Abschluss in der Ausbildung bzw. dem Studium aberkannt wurde, erhält lediglich den am vormals geringen Gehalt – zumindest nach heutigem Maß – errechneten Rentenbetrag, der nicht selten unter 1000 Euro liegt, trotz jahrzehntelanger Arbeit. Zugegebenermaßen hilft das nicht über die allgemein geringen Renten hinweg, die ebenso im Westen besonders Frauen im hohen Alter erhalten, weil sie häufiger als Frauen im Osten keiner Arbeit nachgingen und keine Sozialleistungen in Anspruch nahmen, aber das gehört zu einem anderen Thema.
Fakt ist jedenfalls, um zum Soli zurückzukommen, dass seit einigen Jahren laut Umfragen sowohl im Osten als auch im Westen die Bürger der Meinung sind, man könne den Solidaritätszuschlag abschaffen. Wie in Deutschland, dem Spitzenreiter im Erheben von Steuern, nicht anders zu erwarten, stellt sich in erster Linie die Regierung quer, die nicht gern Geld wieder hergibt, das sie einmal rechtlich erwirtschaften kann. Die Lösung hierzu lautet, dass man den Soli unabhängig von der Region überall nach Notwendigkeit einsetzt, da ihn ohnehin alle bezahlen und mittlerweile die Infrastruktur in weiten Teilen Deutschlands auf gleiches Niveau gebracht wurde und es im Westen genauso wie im Osten Verbesserungsbedarf gibt.

Kleiner Nachtrag aufgrund einer Kommentaranmerkung:
Nicht verwechseln sollte man den Solidaritätszuschlag mit dem Solidarpakt, der wiederum nicht von den einzelnen Bürgern, sondern vom Bund getragen wird. Diese Unterstützungen kommen zu großen Teilen, aber nicht ausschließlich den neuen Bundesländern nach Bedarf zugute. Anfangs bis 2004 geplant laufen die Unterstützungsleistungen nun noch voraussichtlich bis 2019. Wie nötig und sinnvoll das ist, kann offenbar nicht einmal der Bund genau sagen, da die Länder und Einrichtungen das ihnen zur Verfügung gestellte Geld nicht immer den Anforderungen entsprechend einsetzen. Ähnlich wie bei der Treuhand, auf die ich in meinem dritten und letzten Beitrag eingehen werde, scheitert das Unternehmen an Bürokratie und privater Befugnis, wobei das Ausmaß der Veruntreuung bei der Treuhandanstalt natürlich um ein Vielfaches beträchtlicher war.


2.    Reparationsleistungen: Ein Päckchen, das der Osten fast allein trug

Nächstes Standardargument, weshalb die DDR angeblich nicht viel beizusteuern und von der BRD quasi wieder aufgepäppelt werden musste, ist die Demontage der Schwerindustrie und zahlreicher technischer Geräte. Durch die Demontagen boten sich, um das kurz anzumerken, auch Vorteile. Alles musste neu aufgebaut und modernisiert werden. Bestandenes wurde nicht ausgebessert, sondern komplett ausgetauscht. Wenn man sich häufig die Frage stellt, warum in den alten Bundesländern vieles noch tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes "alt" ist, liegt das daran, dass es instandgehalten werden konnte und nicht ersetzt werden musste. Dahinter stehen allerdings noch ein paar weitere Tatsachen. Die Reparationsforderungen der UdSSR wurden von der DDR allein getragen, ohne Beteiligung der BRD. Wären die Regionen nicht aufgeteilt worden, hätte ganz Deutschland diese Reparationsleistungen tragen müssen. Das ist demzufolge ein – lediglich an den Forderungen der UdSSR gemessen mehr oder weniger gerechter – Verlust, den beide Teile Deutschlands zu tragen haben. Für den Wiederaufbau mussten Investitionen vorgenommen werden; in der BRD geschah dies direkt nach dem Krieg. Durch die Teilung wurden indes keine Gelder für die DDR ausgegeben, die erst nach der Wiedervereinigung flossen. Das entspricht einer Aufschiebung, keiner Belastung, die ohnehin angefallen wäre, hätte Russland nicht für eine Isolierung gesorgt.

99,1 Mrd. DM (1953) Reparationen der DDR stehen 2,1 Mrd. DM der Bundesrepublik Deutschland gegenüber. Die DDR trug also 97 – 98 % der Reparationslast Gesamtdeutschlands. Damit entfielen auf jeden Einwohner vom Kind bis zum Greis in der DDR 5.500 DM Reparationen, in der Bundesrepublik hingegen 440 DM (zum Wert 1953) – in der DDR also pro Einwohner mehr als das Dreizehnfache.
Diese Angaben finden sich wieder in einem Aufruf an die Regierung der Bundesrepublik zur Zahlung ihrer Reparations-Ausgleichs-Schuld an die Menschen der ehemaligen DDR, datiert mit der Jahreswende 1989/90, initiiert von dem Bremer Wissenschaftler Prof. A. Peters und unterschrieben von zwölf Wissenschaftlern und Politikern der alten Bundesländer. Daraus wird abgeleitet: Wenn die Reparationsleistungen gleichmäßig auf die Bürger ganz Deutschlands verteilt worden wären, ergäbe sich folgendes: Unter Berücksichtigung einer Verzinsung von 6 ⅝ Prozent (wie sie die DDR für den ihr vom Bundesfinanzministerium über deutsche Großbanken 1983 – 1988 gewährten Kredit zu zahlen hatte) ergibt sich eine Ausgleichszahlung der BRD an die Bürger der DDR in Höhe von 727,1 Mrd. DM zum Wert von 1989 als ein objektiv völlig gerechtfertigter Lastenausgleich.
Interessanterweise ist das etwa die gleiche Summe, die das Wirtschaftskomitee der Regierung Modrow errechnet hatte, um auf die Grundlage eines damals noch favorisierten Stufenplanes der Wiedervereinigung die Arbeitsproduktivität, die materielle Produktionsbasis und die Infrastruktur der DDR bis 1995 auf etwa 80 – 90 Prozent des BRD-Niveaus von 1989/90 heranzuführen.
Auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung seines Memorandums am 28. 11. 1989 in Bonn sagte Prof. A. Peters: "Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass wir, wenn wir jetzt der DDR Ressourcen zur Verfügung stellen, das nicht unter der Überschrift 'Hilfe' oder gar 'altruistische Hilfe' subsumieren können." Die BRD müsse sich als Treuhänder ansehen "für die Bevölkerung der DDR in Bezug auf ein gewissermaßen gespartes Kapital, mit dem wir ja arbeiten konnten. Und dieses Treugut muss man natürlich zurückgeben."
Klaus v. Dohnanyi, Ex-Bürgermeister von Hamburg und einer der Hauptberater der Treuhandanstalt, sagte dies auf einem Kongress führender Manager im Dezember 1992 in Leipzig noch drastischer: "Es geht nicht, dass der östliche Teil Deutschlands, der den Krieg bezahlt hat, auch noch den Frieden bezahlen muss."
Wie hellsichtig klingt in der sprüchereichen Zeit der deutschen Wiedervereinigung dazu der Ausspruch des Altbundespräsidenten Richard v. Weizsäcker, fast wie ein Menetekel: "Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden."

Hier geht es zu den nächsten zwei Beiträgen:
Teil 2: Humankapital, Verschuldung pro Kopf
Teil 3: Eine Kriminalgeschichte der Treuhandanstalt