Donnerstag, 18. April 2019

Das letzte Einhorn

Ein Geschöpf von ursprünglicher Anmut verlässt seinen in ewigem Frühling blühenden Fliederwald, begibt sich auf die Landstraße, dringt in die Zeit, um das Schicksal seiner entschwundenen Artgenossen zu erkunden. Auf der abenteuerlichen Expedition wird es begleitet von Schmendrick, einem drittklassigen Zauberer, und von Molly Grue, der ehemaligen Lagergefährtin eines verhinderten Edelräubers. Das seltsame Trio muss bald erkennen, dass die Erkundungsfahrt nicht ohne Kampf und äußerste Gefahr beendet werden kann. Es gilt, dem Roten Stier zu begegnen, der unter König Haggards verfluchtem Schloss haust.

Peter S. Beagle
Das letzte Einhorn

Die Handlung dieser Geschichte werde ich kaum jemals vergessen, da ich den Trickfilm dazu oft genug in meiner Kindheit sah. Doch das Buch hat einiges mehr zu bieten. Das ist nichts Ungewöhnliches, möchte man meinen. Bei Harry Potter etwa ist es allein die Masse an Informationen, die man nicht alle in den Filmen unterbringen könnte. Dazu gibt es noch kleine Veränderungen wie die Augenfarbe von Harry, die Augenfarbe seiner Mutter, die je nach Schauspielerin wechselt, oder andere Kleinigkeiten wie die unsinnige Reihenfolge beim Aufruf des Sprechenden Hutes im ersten Teil. Dennoch kann man zusammenfassen, dass es hier an Handlung und Darstellung mangelt, nicht am Stil, denn der Stil von Rowling ist eher einfach; sie glänzt vielmehr durch ihre Ideen, insofern sie sich nicht in ihnen verstrickt. Hier hat die Filmreihe nahezu alles richtig gemacht. Es gibt andere Beispiele, bei denen ein Film noch viel mehr aus der Vorlage herausholt, wie etwa bei Twilight: Grenzt die Geschichte zwar häufig an Lächerlichkeit, so muss man der Filmumsetzung dennoch Respekt zollen, kennt man die unfassbar schlechte Vorlage.
Zurück zu Das letzte Einhorn: Während des Lesens schwebten mir unentwegt die Bilder des Trickfilmes vor, das stimmt. Vor allem hatte ich die Synchronisation bei nahezu jeder Aussage im Ohr. Die Dialoge gleichen einander sehr, sind oftmals identisch, wovon ich wirklich angetan bin. Mit einer gewissen Wehmut hinterließen diese innerlich gehörten Stimmen bei mir sogar eine stärkere melancholische Wirkung beim Lesen als damals beim Sehen. Ein Unterschied im Film besteht in einer Vereinfachung der Handlung, also wiederum darin, dass nicht alle Informationen vermittelt werden. Zum Zweiten allerdings, was viel wichtiger ist und dem Film einige Minuspunkte einbringt: Man erahnt nicht den sehr lyrischen Stil und die starke Metaphorik der Buchvorlage.

Dass die Ereignisse im Film vereinfacht wurden, stellt für mich kein Problem dar. Schmendrick wird dort beispielsweise von Banditen entführt, als man ihn in seinem Versteck entdeckt; er führt nicht die Bürger eines Dorfes an der Nase herum wie im Buch, sodass seine Entführung ein Resultat seiner Handlung ist. Aber ich hätte mir gewünscht zu erfahren, dass er durch einen Bann seines Meisters gar nicht altern kann, bis er seine wahre Kraft gefunden hat. Das ist ein wichtiger Teil seiner Charakterisierung. Im Film will er einfach nur ein echter Zauberer werden. Das Buch hat sich hier für ihn viel mehr ausgedacht.
Das merkt man auch an einer seiner ersten Aussagen zum Einhorn, als dieses noch bei Mommy Fortuna gefangen gehalten wird und sich abfällig über ihn äußert; da entgegnet er:

"Selten der Mann, den man für das hält, was er wirklich ist. Die Welt steckt voller Fehlurteile. Ich aber habe auf den ersten Blick erkannt, dass du ein Einhorn bist, und ich bin mir gewiss, dein Freund zu sein. Und dennoch hältst du mich für einen Clown, einen Hanswurst, einen Verräter, und wenn du mich so siehst, muss ich auch einer sein. Der Bann, der auf dir liegt, ist nur ein Truggespinst und wird sich in Nichts auflösen, sobald du wieder frei bist, die Larve aber, die du mir aus Vorurteil aufgesetzt hast, die muss ich in deinen Augen für alle Zeiten tragen. Wir sind nicht immer, was wir scheinen, und selten nur, was wir erträumen. Aber irgendwo habe ich gehört und gelesen, dass vor langer, langer Zeit Einhörner wohl zu unterscheiden wussten zwischen lachendem Mund und Herzeleid, Hirngespinst und Wirklichkeit."

In filmischen Umsetzungen begegnet es mir immer wieder, dass auf sämtliche Metaphorik fast gänzlich verzichtet wird, als handelte es sich nur um nutzlosen Anhang; Ballast, den man abwerfen darf. Behindert es die Handlung denn zu sehr, eine solche längere Aussage einzubinden? Für mich jedenfalls ist gerade so etwas ein kleines Highlight.
Später im Wald lässt Schmendrick seiner Magie zum ersten Mal freien Lauf und beschwört eine Illusion von Robin Hood und seinen Gefährten herauf, die den Räubern den Kopf verdreht. Captain Cully spricht zu Molly Grue:

"Robin Hood ist eine Mythe, ein klassisches Beispiel der Heldengestalt im Volkslied, die sich aus zwingenden Gründen gebildet hat. Die Menschen brauchen Helden, die sie aus ihren Nöten befreien oder sie diese vergessen lassen. Um ein Korn von Wahrheit herum bildet sich eine Legende, wie bei einer Perle."

Sie antwortet ihm:

"Nein, du siehst alles verkehrt. Du, ich, wir alle, uns gibt es gar nicht. Robin und Marian sind Wirklichkeit, und wir sind die Legende!"

Meine liebste Aussage stammt gegen Ende von dem Schädel, der auf Haggards Befehl den Eingang zur Höhle des Roten Stiers bewacht. Um dorthin zu gelangen, muss man durch die kaputte Uhr gehen, sobald sie die richtige Zeit anzeigt. Allerdings gibt es diese richtige Zeit nicht, die Uhr schlägt die Stunden, wie sie will. Der Schädel erklärt dem Zauberer hierzu:

"Ruf dir ins Gedächtnis, was ich über Zeit gesagt habe. Als ich noch lebte, glaube ich - so wie du jetzt -, Zeit sei zumindest so fest und real wie ich selbst, womöglich noch mehr. Ich sagte 'ein Uhr', als ob ich es sehen, und 'Montag', als ob ich es auf einer Landkarte finden könnte. Ich ließ mich jagen, von Minute zu Minute, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr ließ ich mich jagen, so als bewegte ich mich von einem Ort an einen anderen. Wie alle Menschen lebte ich in einem Haus, das aus Sekunden und Minuten, aus Wochenenden und Neujahrstagen erbaut war, und ich traute mich nie hinaus, bis ich starb; denn eine andere Tür gab es für mich nicht. Heute weiß ich, dass ich durch die Mauern hätte gehen können. [...]
Die Uhr wird nie die richtige Stunde schlagen. Haggard hat ihr Werk vor langer Zeit ruiniert, als er eines Tages versuchte, die Zeit festzuhalten, als sie vorüberschwang. Doch das Wichtigste, was es zu verstehen gilt, ist: Es kommt nicht darauf an, ob die Uhr demnächst zehnmal schlägt, oder sieben, oder fünfzehn Uhr. Man kann seine eigene Zeit schlagen und mit dem Zählen anfangen, wo man will. Wenn man das verstanden hat, dann ist jede Stunde für dich die richtige."

Moderne Märchen und Fantasy sind nicht unbedingt mein Wunschthema, wenn sie auf dieser Ebene bleiben. Das letzte Einhorn reiht sich für mich jedoch bei Lindgrens Mio, mein Mio ein oder Michael Endes Momo, da es von einer ähnlichen Atmosphäre geprägt ist und nicht auf dieser oberen Ebene der bloßen Fantasieerzählung bleibt. Wenn der Stil selbst einen tieferen Sinn vermittelt und jede Handlung, jede Figur von einer Metaphorik begleitet ist, dann wird es für mich zu einem kleinen literarischen Kunstwerk.

Donnerstag, 11. April 2019

André Gide: Der Immoralist

"Der Immoralist", André Gides erstes größeres Werk, 1902 in Frankreich erschienen, löste bei seinen Zeitgenossen eine Welle der Empörung aus. Den jungen Autor traf diese vehemente Ablehnung nicht unerwartet, hatte er doch mit jener Erzählung in herausfordernder Weise die Grundfesten bürgerlicher Existenz in Frage gestellt.
Michel, aus begütertem Hause, weltfremd und in puritanisch-strengem Geist erzogen, hat mit fünfundzwanzig Jahren "fast nichts gesehen außer Ruinen und wusste nichts vom Leben". Eine gefährliche Krankheit, die ihn während der Hochzeitsreise in Nordafrika befällt, bewirkt indessen einen tiefgreifenden Wandel in ihm: In dem Maße, wie er sich erholt, spürt er, zunächst unbewusst, dann immer heftiger, das Erwachen seiner unterdrückten Sinne, ein unbändiges Verlangen, die religiösen, geistigen und moralischen Fesseln der Vergangenheit abzustreifen und sich dem Dasein ganz hinzugeben. Er wirft alles ab, was dieser Befreiung im Wege steht: Erziehung, Bildung, Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, menschliche Bindungen. Erst der Tod seiner Frau gebietet dem hemmungslosen Drang nach Selbstverwirklichung Einhalt. "Sich befreien ist nichts, frei sein können ist das Schwierige", ist das Fazit, das Michel am Ende zieht.

André Gide
Der Immoralist

Michel ist Gelehrter, von Kindesbeinen an beschäftigte er sich mit Büchern, Sprachen, theoretischen Fragen. Die Natur und ihre Laster sind ihm fremd. Seine Frau Marceline heiratet er nur aus Pflichtgefühl gegenüber seinem sterbendem Vater. Die Ehe wird geschlossen, bevor Michel und Marceline einander kennen. Sie begeben sich auf eine Reise in den Süden, nach Italien und Afrika, zu den historischen Stätten, die Michel aufgrund seiner Studien interessieren. Doch die Schonung, die er bislang erfuhr, stattete ihn mit schwacher Gesundheit aus, die sich nicht gegen die Lungenschwindsucht erwehren kann. Tuberkulose war zu jener Zeit des Fin de Siècle keine Seltenheit. Man versuchte sie meist durch milderes Klima zu lindern. Doch der Arzt macht ihnen keine großen Hoffnungen. Michel hustet Blut und kann nicht mehr weiter, muss lange Zeit das Bett hüten, nichts scheint ihn zu kurieren. Marceline kümmert sich aufopferungsvoll um ihn, ohne dass sich sein Zustand bessert. Eines Tages bringt sie einen kleinen Jungen mit in ihre zeitweilige Unterkunft in Biskra, Algerien. Unbedarft und rücksichtslos fordert der Junge Michel zum Spielen auf. Animiert von der Jugend und Gesundheit rafft er sich auf und tut fortan aktiv alles dafür, um zu gesunden. Er glaubt nicht mehr an die fürsorgliche Behandlung und Schonung durch seine Frau, auch nicht an ihre Gebete; nur er selbst kann sich retten. Darum ordnet er reichliche Mahlzeiten an; er steht auf und bemüht sich um Bewegung; er tritt hinaus ins Sonnenlicht. Tag für Tag gewinnt er an Kraft. Seine Studien und Bücher werden ihm uninteressant, stattdessen möchte er die Kinder und das gemeine Volk beobachten. Er lädt sie zu sich ein, beschenkt sie reichlich. Und dann geschieht jener Moment, in dem Michel im Spiegel mitbekommt, wie eines der Kinder eine Schere einsteckt. Er sagt nichts, er klagt das Kind nicht an. Ganz im Gegenteil spürt er in sich eine Faszination und Aufregung keimen. Der Knabe, Moktir, ist ihm seither am liebsten, und er ist dankbar für die Vollkommenheit seiner glücklichen Tage.

"Nichts behindert das Glück so sehr wie die Erinnerung an das Glück."

"Die schönsten Werke der Menschheit sind unausweichlich voll des Leids. Wie ließe sich das Glück erzählen? Nur was es vorbereitet und was es zerstört, lässt sich berichten."

Seine Genesung gelingt. Da er sich die Reise zutrauen kann und Marceline des Lebens in der Ferne müde ist, machen sie sich auf den Heimweg. Die Krankheit jedoch veränderte Michel. Dass er dem Tod nur knapp entging, flößt ihm einen neuen Blick auf das Leben ein. Der Diebstahl der Schere, die kleinen Lügen der Kinder, das müßige Verstreichen der Tage: etwas unausprechlich Anziehendes liegt für ihn darin.
Noch widmet er sich seinen Verpflichtungen. Er kümmert sich um die Güter, die ihm seine Mutter in der Normandie hinterließ. Dort lernt er Charles, den Sohn eines seiner Pächter, kennen. Wieder ein junger Mann, der ihn in seinen Bann schlägt. Als Marceline schwanger wird, ist Michel zwar voller Zuneigung und Hochgefühl, doch trifft er sich lieber mit Charles.
Im Kolleg wartet eine Arbeit auf ihn, er soll Vorlesungen halten und seine Studien in einem Buch festhalten, daher wohnen sie zwischenzeitlich in Paris. Hatten ihn sonst die Treffen und Gespräche mit seinen Bekannten angestrengt und gelangweilt, werden sie ihm nun zunehmend lästig. Diese Zusammenkünfte schienen ihm früher erschöpfend und sinnlos, sodass er das Gefühl hatte, am Tag nichts geschafft zu haben; nun jedoch erschaffen sie ihm zu viel, widmen sich der Bereicherung des eigenen Selbst und allen sonstigen sinnstiftenden Tätigkeiten. Das alles hat für Michel keinen Wert mehr. Wenn er seine Gedanken zu formulieren versucht, möchte ihm kaum jemand zustimmen, und diejenigen, die ihm zustimmen, haben ihn am wenigsten verstanden. Nur einer unter diesen Intellektuellen, Ménalque, der von den anderen ob seiner Arroganz und Amoral argwöhnisch betrachtet und gemieden wird, scheint ihn zu erkennen und mittlerweile interessanter zu finden als vorher. Ähnlich wie bei der Begegnung mit den Kindern schwingt ein Hauch von Anrüchigkeit in Michels Annäherung mit. Als Ménalque ihn darauf anspricht, dass sich Michel für die jungen Knaben in Algerien mehr begeisterte als für seine Frau, errötet dieser sogar. Womit Michel noch weniger gerechnet hat, ist die Rückkehr der gestohlenen Schere. Ménalque führte in Algerien ein Gespräch mit dem Jungen, der die Schere damals entwendet hat. Tatsächlich hatte dieser Junge gleichfalls gesehen, dass man ihn bei der Tat beobachtete. Diese Tatsache weckte Ménalques Interesse. Er gibt Michel einen Rat: Der Mensch täte gut daran, mit jeglichem Besitz genauso zu verfahren. Je weniger man sich an solche Dinge bindet, desto freier ist man, desto weniger muss man fürchten. Ebenso soll man der Vergangenheit entsagen, denn sie stünde der Zukunft im Weg.
Die letzte Nacht vor seiner Abreise möchte Ménalque gemeinsam mit Michel verbringen. Obwohl es dessen Frau zu dieser Zeit sehr schlecht geht, willigt Michel voller Spannung ein. Kurz darauf hat seine Frau eine Fehlgeburt.

Entsagung und Laster, Überdruss an sinnvollen Beschäftigungen, das Glück in den amoralischen Zügen des Lebens; nach und nach lebt Michel dieses Prinzip. Er legt sich ein paar brachliegende Felder zu, die wenig Ertrag versprechen, und beginnt darauf persönlich zu wildern, zu seinem eigenen Schaden. Er schließt sich lasterhaften jungen Männern an, knüpft neue Bekanntschaften, lässt seine kranke Frau daheim und beachtet sie nur, wenn ihn zeitweilig eine stürmische Zuneigung überkommt. Er lebt verschwenderisch, stattet seine Unterkünfte mit dem teuersten Inventar aus, selbst wenn er schnell weiterzieht. Er gibt Leuten Geld, die gerade nichts tun, denn sie kosten in seinen Augen das Leben aus. Der Gedanke ist ihm unerträglich, dass Menschen zum Leben einer Arbeit nachgehen müssen, die ihnen kein Vergnügen bereitet. Das sei für ihn nichts anderes als Sklaverei. Solche Arbeit könne nur langweilen und ohne Muße entstünden weder Laster noch große Kunst. In jeder Person sieht Michel einen unterdrückten immoralischen Geist.
Marceline nimmt alles duldsam hin und weist ihn nur zurecht: "Verstehst du nicht, dass wir den Menschen zu dem machen, was er nach unserer Meinung ist."

Michel ist nicht zu besänftigen. Seine Güter verkommen, Freunde wenden sich von ihm ab, der Gesundheitszustand seiner Frau wird immer schlimmer, da sie nun ebenso an Schwindsucht erkrankt ist. Für Michel besteht die Lösung darin, seinen Weg in die Vergangenheit zurückzufinden, zum Anfang ihres Glückes, auf den Spuren ihrer ersten Reise. Damit sich Marceline erholen kann, fahren sie zuerst in die Berge, was ihr tatsächlich hilft. Doch kaum ist sie ein wenig kräftiger, treibt Michel die Unternehmung weiter. Im unwirtlichen Winter reisen sie durch Italien. Die Orte ihrer damaligen Erlebnisse sind ein Schatten seiner Erinnerungen. Was er als bezaubernd schön empfand, wirkt auf ihn nun grau und plump. Doch er hört nicht auf, die schönsten Apartments und Häuser zu suchen, sie reichlich auszustaffieren, Geld in Unmengen zum Fenster herauszuwerfen und nach kurzer Zeit doch weiterzureisen. Marceline macht es mit, obwohl sie immer schwächer wird. In den Nächten lässt Michel sie allein, treibt sich stundenlang herum.
Endlich erreichen sie Biskra, wo die größte Niederlage seines einstigen Glückes auf ihn wartet: Die Kinder sind erwachsen geworden. Sie gefallen sich nicht mehr im vergnüglichen Nichtstun. Der eine ist Spüljunge geworden, der andere klopft mühsam Steine, der nächste hat ein Auge verloren, ein anderer säuft, wieder ein anderer ist jetzt Metzger und wird fett, hässlich und reich. Nur Moktir, der Scherendieb, ist sich treu geblieben. Er war im Gefängnis; davor beschäftigte er sich mit dem Nichtstun. Michel findet ihn am schönsten von allen.

An diesem Punkt ist es ihm nicht genug, Michel möchte weiter, angeblich zum Wohle seiner Frau. Es ist, als wollte er Marceline in den Tod treiben. Und dieser Tod ereilt sie schließlich in einer fürchterlichen Unterkunft mitten in der Wüste.
Damit hat Michels Reise ein Ende und er kehrt zurück, in die Arme der nächsten Prostituierten, des nächsten jungen Mannes, der nächsten Suche nach dem Glück.

Dienstag, 9. April 2019

André Gide: Uns nährt die Erde

"Mein Buch lehre dich: Mehr mit dir selbst als mit ihm dich zu beschäftigen - und mit allem anderen mehr als mit dir."

"Wahnwitzige Krankheiten gibt es:
Wen sie befallen, will, was er nicht hat.
-
Auch wir, sprachen sie, auch wir werden die klägliche Langeweile unserer Seelen erleben müssen!"

"Begehre niemals, Nathanael, die Wasser der Vergangenheit wieder zu kosten.
Nathanael, suche niemals, in der Zukunft die Vergangenheit wiederzufinden. Ergreife jedes Augenblickes unvergleichliche Neuheit und bereite dir nicht deine Freuden - wisse, dass am vorbereiteten Ort Freude anderer Art dich überraschen wird.
Wie konntest du nicht begreifen, dass alles Glück Begegnung ist und sich jeden Augenblick wie der Bettler am Wege vor dich hinstellt. Du Ärmster, wenn du wähnst, dein Glück sei tot, weil du nicht solcherart dein Glück dir erträumt hattest - und weil du's nicht annehmen willst, es entspreche denn jenem deinem Wunsche.
Lust bringt der Traum von morgen - aber die Lust von morgen ist eine andere -, und nichts zum Glück gleicht dem Traumbild, das man sich davon gemacht hat, denn neu und anders ist die Bedeutung eines jeden."

"Ich kann Gott so wenig Dank wissen dafür, dass er mich geschaffen hat, als ich es ihm nachtragen könnte, dass ich nicht wäre - wenn ich nicht wäre."

André Gide
Uns nährt die Erde

Eine langweilige Erzählung, in dreifacher Hinsicht. Erstens handelt sie von den Sinnesfreuden, vom Sinn des Lebens, von der Langeweile der Seele und Sinnlosigkeit des Daseins. Zweitens ist dieses Thema, ohne dass es eine fortschreitende Handlung neben all den Gedanken gäbe, sehr langwierig und auschweifend erzählt. Drittens liest sich das alles für mich auch ziemlich langweilig.
André Gide meint im Vorwort, sein Buch sei nicht gut aufgenommen oder überhaupt groß rezipiert worden. Offenbar hat sich kaum jemand anfangs dafür interessiert, was ich leider verstehen kann. Auf mich wirkt es zuerst wie eine Aneinanderreihung von pathetischen Gedanken, danach übergehend in Balladen, alles durchsetzt von Verweisen auf historische oder mythische Figuren, und irgendwann scheint es nur noch ein Reisebericht mit überquellenden Landschaftsbeschreibungen von Italien, Afrika, dem arabischen Raum zu sein. Irgendwo zwischen dem ganzen schwülstigen Gerede taucht immer wieder eine gegensätzlich deutbare Moral auf, mit der sich der Erzähler an Nathanael wendet, um sich selbst zu belehren und vielleicht auch diesem eine Richtung zu weisen. Beim Lesen wohnt man endlosen Ausschweifungen bei, doch betont Gide im Vorwort, dass sein Werk stattdessen ein "Lobpreis der Entsagung" sei. Also schauen wir nochmal genauer hin.

Die Erzählstruktur, die Thematiken, das Pathos, die Metaphern des Einstiegs erinnern alle ein wenig an Nietzsches Also sprach Zarathustra. Gide hat dieses Werk zum Zeitpunkt des Verfassens von Uns nährt die Erde nicht gekannt. Später jedoch verehrte er Nietzsche regelrecht und entdeckte im Zarathustra die gleichen grundlegenden Aussagen, die er selbst verdeutlichen wollte; obwohl er einräumt, Nietzsche sei das mit Zarathustra in absoluter Vollendung gelungen, im Gegensatz zu dem eher unausgereiften Jugendwerk von Gide. Wir haben hier demnach ein ähnliches Fundament und tatsächlich ähnelt sich auch der Stil am Anfang sehr, bloß dass Uns nährt die Erde ein religiöseres Vokabular und einen stärkeren Gottesbezug aufweist. Dieser Eindruck bzw. der Vergleich, den man hier ziehen könnte, verschwindet allerdings vollends, sobald es in den Reisebericht übergeht.

Man merkt Gide an, dass er all diese Orte, von denen er erzählt, selbst besucht hat; dass er sich offenbar Ausschweifungen hingab und diese Erinnerungen in seinem Werk festhielt. Hier ähnelt er eher jenen beiden französischen Autoren, die gern mit ihm auf einer Ebene genannt werden: Paul Valéry und Marcel Proust.
Bevor Gide Uns nährt die Erde schrieb, traf er in Algerien auf Oscar Wilde (in Begleitung von Alfred Douglas), der ihm offenbar die Scheu vor der Auslebung seiner homosexuellen Neigungen nahm. Das Büchlein Die Ringeltaube ist ein Resultat von Gides beginnender Offenheit mit diesem heiklen Thema. Man entdeckt diese Tendenzen auch in Uns nährt die Erde, einen freizügigeren Umgang mit dem Laster und der Achtsamkeit.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf ist es schwierig, ausschließlich etwas Negatives in den beschriebenen Ausschweifungen zu sehen. Mir fiel beim Lesen zuerst der bekannte Auszug aus Henry David Thoreaus Walden ein: "Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben und nur den wesentlichsten Dingen des Lebens gegenüberstehen. Ich wollte versuchen, ob ich nicht seine Weisheiten empfangen könnte, damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte. [...] Intensiv leben wollte ich, das Mark des Lebens in mich aufsaugen. Hart und spartanisch wollte ich leben, um alles auszurotten, was nicht Leben war [...]" Ähnlich wie bei Thoreau ist das absolute, wohlüberlegte Leben doppelt deutbar. In Walden ist es die Zurückgezogenheit, weltabgewandt und fern von allen Lastern; bei Uns nährt die Erde ist es das genaue Gegenteil, immer in Bewegung, immer in Kontakt mit verschiedenen Menschen. Beides scheint mir aber richtig zu sein, beides ist Bejahung und Auskosten des Lebens.

Getrübt wird dieser Eindruck von der stilistischen Gestaltung bei Gide. Die Metaphern sind sehr neuartig, klingen fremd, außergewöhnlich. Die Worte graben in "röchelnde Erde" und "Bäume schreien mit all ihren Blättern". Es gibt viele Widersprüche, in denen eigentlich positive Beschreibungen einen negativen Nachgeschmack erhalten. Das Blau des Himmels ist strahlend und frei und durchbohrt den durchscheinenden Leib. Das Lachen der Menschen lässt die Ohren ertauben. Ein zuckriger Geschmack von frischen roten Früchten krallt sich in den Rachen wie Säure. Der an einen Reisebericht erinnernde Text wird immer wieder von solchen Beschreibungen regelrecht zerschnitten. Gide spricht in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe die Übersetzung an, die stark vom Französischen abweichen soll und daher mit neuen Bildern arbeitet, die nicht übertragbar waren. Er empfiehlt sogar, man solle für weitere Übersetzungen die deutsche Ausgabe zu Rate ziehen. Dieser widersprüchliche Stil zeigt am besten den negativen Ton der Ausschweifungen, die unter diesem Aspekt eher an Dorian Gray zu gemahnen scheinen.

Zum Schluss findet sich in dem letzten Hinweis an Nathanael eine Aufforderung, dieses Buch nun, nachdem man es gelesen hat, wegzuwerfen. Obwohl es ein paar interessante Aspekte hat, sollte man es vielleicht von Beginn an nicht in die Hand nehmen.

Samstag, 6. April 2019

André Gide: Paludes

"Paludes, das ist die Geschichte des neutralen Bodens, desjenigen, der jedermann gehört ... oder besser: des normalen Menschen, desjenigen, mit dem jeder anfängt - die Geschichte der dritten Person, derjenigen, von der man spricht - die in jedem von uns lebt und die nicht mit uns stirbt. Bei Virgil heißt er Tityrus - und es heißt dort ausdrücklich, dass er liegt - 'Tityre recubans'. - Paludes, das ist die Geschichte des liegenden Menschen."
"Ach so, ich dachte, es sei die Geschichte eines Sumpfes."

André Gide
Paludes

Es ist ein Buch über das Buch Paludes, welches von Tityrus erzählt, der angeln will, ohne etwas zu fangen, ohne etwas fangen zu dürfen; über Tityrus, der den Sumpf betrachtet. Ist sein Autor histrionisch, selbstverliebt, unsicher, faul?
Es ist die Parodie auf einen Schreiber, der den ganzen Tag nichts zu tun hat, außer ein extrem nichtssagendes Werk zu verfassen und sinnlose Listen zu führen. Auf diesen Listen stehen seine Vorhaben für den Tag, zum Beispiel:

Am Abend versuchen, über Brücke xy zu laufen.
Seine Empfindungen mannigfaltig machen.
Hoffen, dass ich Darwin zu Ende lese.

Da steht nicht als Vorsatz: "Darwin zu Ende lesen", sondern "hoffen", das man es tut.
Diese Listen sind Rechtfertigung für ... ja, wofür eigentlich? Für Prokrastination?

"Das Merkbuch hat doch sein Gutes, dachte ich, denn wenn ich für heute morgen nicht aufgeschrieben hätte, was ich tun sollte, hätte ich es vergessen und mich nicht freuen können, dass ich es nicht getan habe."

An vielen Stellen ist Paludes voller trockenem Humor. Am amüsantesten tritt Angèle auf, eine Freundin des Erzählers. Sie wirkt interessiert am Schaffen und Schreiben und sogar an diesem neuartigen, unverständlichen Werk. Gleichzeitig scheint sie immer verschmitzt. Sie lädt den Erzähler zu einem Literaturabend ein, mit vielen anderen Intellektuellen. Er könnte ja etwas aus Paludes vortragen oder eines seiner belanglosen Gedichte:

Spaziergang

Wir sind durch die Heide gegangen.
Gott, erhöre doch unser Verlangen!
Wir irrten über die Heide weit,
Und als der Abend niedersank,
Da suchten wir nach einer Bank,
So groß war unsre Müdigkeit.

Seine geistigen Ergüsse wären natürlich alle etwas für Paludes und wer das nicht gut findet, der hat es nicht verstanden; der hat nicht verstanden, dass es nicht darum geht, ein Werk gut, sondern sich selbst darin zu finden, denn "ein Buch ist immer eine gemeinsame Arbeit". So oder so ähnlich wäre die unsichere, rechtfertigende Antwort des Schreiberlings.
Angèle sagt es nicht offen, aber es ist, als suchte sie nur nach einer lustigen Abendgestaltung. Ihre ersten Worte auf Paludes waren: "Ich fürchte, ihre Geschichte ist ein wenig langweilig."
Aber es geht nicht darum, ob das langweilig ist, sondern darum, dass man in der Langwierigkeit das Wollen erkennt und niemand sollte sich mit sinnvollen Tätigkeiten beschäftigen müssen. Oder so ähnlich. Tatsächlich scheint sich der Schreiber selbst nicht ganz im Klaren, was er eigentlich ausdrücken will.
André Gide war sich sehr wohl im Klaren, was er darstellen wollte: Ohne zu ahnen, worauf ich mich einlasse, erkannte ich in Paludes eine sehr witzige Satire. Sie ist gleichzeitig subtil und übertrieben und absurd.
"Er sieht aus wie ein Grinsilator." - Ja, so kam ich mir manchmal beim Lesen auch vor. Ob man nun den Intellektuellen beiwohnt, die vor dem Betreten der Räumlichkeiten von Angèles Zusammenkunft im Treppenhaus sitzen und Zettel mit ihren geistigen Ergüssen austauschen, auf denen irgendwie genau das Gleiche und irgendwie genau das Gegenteil steht. Oder ob man den verworrenen, sich ständig wiederholenden Überlegungen des Schreiberlings folgt. Seine Gedanken wirken auf jeden Fall echt, gerade durch die wirre Redundanz, manchmal sind sie auch regelrecht lyrisch.

Gehst du hinaus, gib acht! auf was?
Doch schlimmer noch, du bleibst am Ort.
Der Tod ist nah - ist überall,
Er nimmt dich mit und sagt kein Wort.

Es geht um Langeweile, sinnloses Handeln, ewiges Wiederholen. Offenbar kann sich der Schreiber diesen Müßiggang leisten, er hat sogar einen Diener. Er legt sich schlafen, ihm fällt etwas zu Paludes ein, er nimmt einen Zettel, schreibt etwas Nichtssagendes darauf, legt sich wieder hin. Dann fällt ihm wieder etwas ein, ähnlich bedeutungslos, ein zweiter Zettel. Er liegt, er steht wieder auf, nimmt einen dritten Zettel und .....
........................................................................................ hat vergessen, was er schreiben wollte.

Am Ende gibt es eine Seite für ein:

Verzeichnis
der bemerkenswertesten Sätze
aus Paludes

Seite 57     Er sagte: "Siehe da! Du arbeitest?"
Seite 113   Bis zum Ende muss man alle Ideen weiterschleppen, die man einmal aufgehoben hat.
Seite *

*Aus Achtung vor der Idiosynkrasie jedes einzelnen überlassen wir es dem Leser, diese Seite vollends auszufüllen.

Das fand ich so sympathisch, dass ich hinzufügte (obwohl ich das sonst niemals tue, allerdings mit Bleistift):

Seite 37     [...] wenn ein Philosoph einem antwortet, versteht man überhaupt nicht mehr, was man ihn gefragt hatte.

Donnerstag, 4. April 2019

Monsieur Teste: Ein Ideenungeheuer

Buchvorstellung
Paul Valéry
Monsieur Teste
"Dummheit ist nicht meine Stärke."
So beginnt der Unbekannte seine Gedanken über sich selbst und Monsieur Teste.
Die Idee erschließt sich leicht von selbst beim Lesen: Der Monsieur soll gänzlich dargestellt werden, in jedem Abschnitt aus anderer Perspektive und versehen mit einem anderen Stil. Die erste Person sieht den Monsieur Teste in der Oper. Die zweite Person schreibt ihm einen Brief, nachdem sie ihm auf einer Fahrt begegnete. Die dritte Person ist die Frau des Monsieurs, die in einem Brief dem zweiten Unbekannten antwortet. Die vierte Perspektive ist die Sicht des Monsieurs selbst, in ungeordneten aphoristischen Fragmenten, als habe man seine Notizen eingesammelt.
Dies alles geschieht wortgewandt und teils unabhängig von der Darstellung des merkwürdigen Monsieur Teste, denn es ist nicht eigentlich seine Figur, die im Fokus steht, sondern es sind die Assoziationen seiner Betrachter. Interessant sind deshalb eher die ersten beiden Herren, die in ihren Gedanken und Persönlichkeiten kaum verschieden scheinen. Wir folgen ihren Gedankenketten, die nur eines Monsieur Teste als Anstoß bedurften.

"Was sie ein höheres Wesen nennen, ist ein Wesen, das sich getäuscht hat. Um über dieses zu erstaunen, muss man es sehen - und um es zu sehen, muss es sich zeigen. Und es zeigt mir, dass es der einfältigen Besessenheit von seinem Namen verfallen ist. So ist jeder große Mann von einem Irrtum befleckt. Jeder Geist, den man gewaltig findet, beginnt mit dem Fehltritt, der ihn bekannt macht."

"Früher - es mag zwanzig Jahre her sein - war mir jede überdurchschnittliche, von einem anderen vollbrachte Tat eine persönliche Niederlage. In der Vergangenheit erschaute ich Ideen, die man mir gestohlen hatte! Welche Torheit! ... Zu denken, das unser eigenes Bild uns nicht gleichgültig ist!"

"Mein schlechtes Gewissen rät mir bisweilen, sie anzuschuldigen, um mich zu verteidigen. Es raunt mir zu, dass nur jene, die nichts suchen, der Dunkelheit nie begegnen, und dass man den Leuten nur das vorsetzen darf, was sie schon wissen."

"Ich misstraue allen Worten, denn die geringste Überlegung erweist es als sinnlos, darauf zu trauen. Ich bin, leider, soweit gekommen, die Worte, auf denen man so unbekümmert die Weite eines Gedankens überquert, leichten Brettern über einem Abgrund zu vergleichen, die wohl den Übergang, nicht aber ein Verweilen aushalten. Der vorwärts eilende Mensch benützt sie leihweise und macht, dass er weiterkommt, doch falls er nur im mindesten darauf verharrt, so zerbricht das bisschen Zeit sie und das Ganze verschwindet in der Tiefe. Wer sich beeilt, hat begriffen; nur nicht verweilen: man fände bald heraus, dass die klarsten Wortgespinste aus dunklen Ausdrücken gewoben sind."

Die Gedanken des Monsieur Teste hingegen wirken wirr und unverständlich.

Aus seinem Logbuch:
"Anderer, mein Zerrbild, mein Vorbild, beides.
Anderer, den ich gerade im Schweigen töte; den ich verbrenne vor der Nase meiner-Seele!
Und ich! Ich, das ich zerreiße und das ich mit seiner eigenen immer wiedergekäuten Substanz nähre, der einzigen Nahrung, damit es wachse!
Anderer, den ich als Schwachen liebe, den ich vergöttere und einsauge, wenn du stark bist - ich habe dich lieber klug und tatlos ... es sei denn (Seltenheit!) und bis dass - vielleicht - ein anderes Selbst erschiene - eine klare bestimmte Antwort ... Was bedeutet bis dahin alles andere!"

Paul Valéry arbeitete lange Zeit weiter an der Grundidee, an seinem Ideenungeheuer, wie er es nannte. Zur Ergänzung erschuf er weitere und weitere Perspektiven. Das Konzept konnte beliebig fortgesetzt oder eingeschränkt werden, ohne dass jenes Fundament verloren ging. Allerdings sind alle diese Sichtweisen nur auf die Innenschau gerichtet; es gibt keine Handlung. Das Ideenungeheuer ist nur eine Möglichkeit und gleichzeitig eine Unmöglichkeit. Mit dem Versuch beeinflusste Valéry zahlreiche Schriftsteller nach ihm und neben ihm.
Ein Werk entstünde nicht durch den Autor allein, sondern in Zusammenarbeit mit dem Leser, der etwas darin erkennt. Darum erschuf Huysman ebenso den Monsieur Teste von Valéry, wie jener an den Werken von André Gide mitwirkte. So ist jedes Wort das Resultat eines gemeinsamen Ideenungeheuers.

Robinson Crusoes weitere Abenteuer

Normalerweise leide ich an Komplettionismus. Habe ich einmal ein Buch angefangen, fällt es mir schwer, es wieder wegzulegen, wie scheiße es auch sein mag. Vielleicht kommt ja doch noch etwas. Vielleicht gibt es eine Kleinigkeit, die ich daraus mitnehmen kann. Vielleicht enthüllt sich mir der Zauber am Schluss. Oder vielleicht brauche ich nur einen Grund, um am Ende mit Gewissheit sagen zu können, dass das ganze Buch wirklich kacke ist und nicht nur der Anfang.

Seit meiner Jugend gab es dennoch drei Bücher, die mir als unbeendet im Gedächtnis blieben.
Erstens: Wie der Stahl gehärtet wurde von Nikolai Alexejewitsch Ostrowski
Zweitens: Die Architekten von Stefan Heym
Und drittens:

Daniel Defoe
Die weiteren Abenteuer des Robinson Crusoe

Da ich während des Lesens an Ulysses in einer Mir-egal-alles-ist-besser-als-das-Stimmung war und generell einen Hang dazu habe, frühzeitig Bücher zu lesen, die wahrscheinlich nicht so toll sind und die ich möglichst bald aus meiner Sammlung aussondern möchte, griff ich erneut nach dem zweiten Teil von Robinson Crusoe, den ich das letzte Mal in meiner Kindheit in der Hand hatte. Bereits den ersten Teil, den die meisten als Klassiker kennen, fand ich damals ziemlich ätzend, aber der zweite war dann richtig schrecklich.

Mein Leid habe ich wie vormals in einem Lesetagebuch festgehalten, zum Teilen, Erheitern und zum Gedenken an schlimmere Tage, sollte ich mal wieder ein mieses Buch lesen.


Robinsonade: Noch eine langweilige Irrfahrt
Lesetagebuch
Erstes Kapitel von Robinsons Heimreise:
Er schreibt über seine Pflanzungen und Finanzen.

Zweites Kapitel:
Pflanzungen und Finanzen.

Drittes Kapitel:
Aufbruch nach England.
"Aber ich will nicht mit einem Reisebericht langweilen."
Haha, dafür mit allem anderen.

Viertes Kapitel:
Abschlachten eines Bären, der sich gar nicht für sie interessierte und der friedlich weitergegangen wäre. Einfach nur, damit alle was zu lachen haben. (Ja, ernsthaft, damit sie was zu lachen haben.)
Toter Körper wird liegen gelassen; haben ja eh genug Proviant und Kleidung ...

Fünftes Kapitel:
Über 300 Wölfe fallen sie an (na klar), aber sie sind siegreich und kommen schließlich ans Ziel.

Sechstes Kapitel:
"Von hier aus reiste ich nach Brasilien und sandte ihnen ein Fahrzeug, das ich dort kaufte. Außer dieser Unterstützung schickte ich ihnen sieben Frauen, die ich sowohl für das Hauswesen geeignet fand, die auch der eine oder andere, wenn er mochte, heiraten konnte. Den Engländern hatte ich versprochen, sofern sie Ackerbau betreiben wollten, Frauen aus England zu schicken. Ich übersandte ihnen von Brasilien fünf Kühe, von denen drei trächtig waren, und einige Schafe und Schweine, die sich bei meiner Wiederkehr ansehnlich vermehrt hatten."
... Ob er auf der Ladungsliste wohl die Frauen mit unter das Fahrzeug, die Kühe, Schafe und Schweine geschrieben hat?

Was beim letzten Mal bei Robinson Crusoe 2 geschah; Robinson erzählt:
"Ich legte mir ein paar neue Pflanzungen zu und kümmerte mich um meine Finanzen (mal wieder). Nebenbei habe ich auch geheiratet, Kinder gezeugt und bin alt geworden (das alles auf einer Seite). Dann starb meine Frau (was nicht überraschend kommt, weil ich das gleich am Anfang erzählte, damit es nicht zu spannend wird). Nach dem Tod meiner Frau hielt mich in meiner Heimat nichts mehr (bis auf meine drei Kinder, aber was soll's). Ich beschloss, zu meiner Insel zurückzukehren, und segelte los. Unterwegs begegnete uns ein brennendes Schiff; wir retteten alle und ich konnte mal wieder meinen Großmut unter Beweis stellen. Das waren Franzosen und die gebärdeten sich vor Freude echt unmöglich, total unkontrolliert und unhöflich, wie Franzosen halt so sind. (Ich stelle auf zwei Seiten Überlegungen darüber an, warum Franzosen und ähnliche Nationen ihr Temperament so wenig und vor allem ungebührlich unter Kontrolle haben.) Wir setzten die Franzosen irgendwo ab und segelten weiter. Unterwegs begegnete uns ein vom Sturm fast zerstörtes Schiff; bis auf eine Frau retteten wir alle vorm Hungertod und ich konnte mal wieder meinen Großmut unter Beweis stellen. Abgesehen von dem Sohn und der Dienstmagd der Verstorbenen ließen wir aber alle auf dem Schiff, mehr konnte man ja nicht tun. Später erfuhren wir, dass der Rest der Mannschaft offenbar nie Land erreichte (na ja, ist ja auch kein Wunder, so viel Wasser, wie da schon ins Schiff gelaufen war, Shit happens). Endlich kamen wir auf meiner Insel an. Ich hatte dort ein paar Spanier mit einigen kriminellen Engländern zurückgelassen. Die haben sich in meiner Abwesenheit ständig bekriegt, das erzähle ich auch haarklein, ohne den Akteuren Namen zu geben, damit man mir nicht zu leicht folgen kann. Selbstverständlich kamen auch Wilde auf die Insel, vor denen man sich in Acht nehmen muss, denn, wie man weiß, essen die alle Menschenfleisch. Ein paar von den Engländern erbeuteten ein paar Wilde, die sie für sich arbeiten lassen wollten, weil sie laut eigener Aussage selbst zu faul waren, um durch Ackerbau zu überleben. Unter den Erbeuteten waren auch ein paar Frauen, die waren sehr hübsch, obwohl ihre Haarfarbe schwarzbraun war; zwei von denen hätten sogar in London als hübsch gegolten, wenn sie weiß gewesen wären. Jedenfalls teilte man die Frauen gerecht untereinander auf."

Was beim letzten Mal geschah:
Auf Robinsons Insel wurden also die Frauen auf die Engländer verteilt, sie gründeten Familien und bekamen Kinder, die restlichen Wilden wurden Diener. Es entstand eine Kolonie. Ein paar Kriege mit den Wilden wurden geführt, denn die griffen sie immer wieder an, weil ... weil ... weil Wilde das halt tun und Menschen essen. Robinson schleppte einen Geistlichen an, der zwar römisch-katholisch war, also nicht dem richtigen christlichen Glauben angehörte, aber hey, nobody is perfect. Die Wilden wurden also zivilisiert und missioniert. Danach und zwischendurch geht es um Pflanzungen und Finanzen, unser Lieblingsthema. Dann will Robinson die Insel verlassen; auf dem Meer werden sie (mal wieder) von Wilden angegriffen. Die schießen mit Pfeilen, aber Robinson hält es für eine gute Idee, Sidekick Freitag aufs Deck zu schicken, um mit ihnen zu reden. Es kommt, wie es kommen muss, Freitag wird erschossen und das Gejammer von Robinson ist groß. Wie auch immer, die Insel ist Geschichte. Es geht nochmal um die Finanzen seiner Pflanzungen in Brasilien, dann setzen sie nach Madagaskar über. Dort gibt es erneut Wilde, mit denen sie ein bisschen handeln und tauschen. Einer von Robinsons Leuten macht ein junges Mädchen von den Wilden an und zerrt es in einen Busch, den Rest kann man sich denken. Die Wilden rasten aus und greifen sie an. Den einen, der das Mädchen verschleppte, erwischen sie. Die restliche Mannschaft will des Nachts nochmal zu den Wilden zurück und sich "rächen". Sie finden den besagten Vermissten am Baum aufgehängt, sind sauer, zünden das Dorf der Wilden an und erschießen jeden, der aus den Hütten kommt. Da hatte ich erstmal keine Lust mehr. Meines Erachtens sollten diese selbsternannten Rächer neben dem Vergewaltiger am Baum hängen, aber was weiß ich schon.

Das Ende einer Irrfahrt:
Trotz seiner zweifelhaften und selbstgefälligen Moral ist Robinson diesmal nicht der Meinung der anderen Leute auf dem Schiff. Er fand es nicht ganz fair, dass die Mannschaft ein ganzes Dorf niedermetzelte, nachdem sich eines ihrer Wildenmädchen so uneinsichtig gegen ihre Vergewohltätigung gewehrt hatte. Als Konsequenz wurde Robinson von seinem eigenen Schiff verbannt und irgendwo an einem Hafen ausgesetzt. Da war er lange Zeit und bereitete irgendwas für seine Abreise vor, mehrere Monate lang. Er bereitet sowieso ständig irgendwas vor und wartet mehrere Monate oder Jahre. Gefühlt ist er für mich schon über 100.
Er will nach Japan reisen, findet einen Geschäftspartner, sie kaufen Waren ein, die Waren werden akribisch aufgezählt, genauso die Besatzung des Schiffes und anderer Kram, der niemanden interessiert. Dann reisen sie nach Japan, aber von dort erzählt er nichts, wäre ja auch langweilig. Sie kommen zum Hafen zurück, wollen noch eine Reise unternehmen, kaufen Waren ein usw., setzen wieder über nach Japan, erzählen nichts von dort, kommen zurück und überlegen, was sie als nächstes tun sollen. Dann kaufen und verkaufen sie Waren, reisen mal hierhin und dorthin, handeln, schiffen Waren herum, warten irgendwo, blablablangweilig.
Dann möchten sie sich ein eigenes Schiff besorgen, ihnen wird überraschend billig eines angeboten. Anstatt mal ein bisschen an diesem Bombengeschäft zu zweifeln, machen sie sich mit dem Schiff auf den Weg. Sie müssen aber bald feststellen, dass sie von allen möglichen Leuten verfolgt werden, die erst mit Kanonen schießen und dann Fragen stellen. Ihr Schnäppchenschiff gehörte nämlich einer meuternden Bande, die als Piraten herumzog und überall gesucht wird. Als diesen Piraten die Sache zu heikel wurde, verkauften sie das Schiff an den erstbesten Idioten, sprich: Robinson. Es gibt also noch diverse Kämpfe, Schlachten und Fluchten. Dann endlich schaffen sie es, ihren Kahn an den nächsten unwissenden Trottel weiterzugeben. Dem wird schon nichts passieren, der fährt damit bestimmt ganz woanders herum. Mit einer Karawane geht es dann ewig durch die Steppe, Wüste, über Berge, es tauchen Banditen auf und warum ist dieses Buch eigentlich bei dem ganzen Zeug, das da passiert, trotzdem so extrem langweilig?
Egal, Robinson kommt jedenfalls irgendwann nach Hause und will angeblich nie mehr reisen. Hoffentlich. Ende.

Nachwort:
"Ein jeder von Euch hat gewiss voller Spannung und Begeisterung die Abenteuer des Robinson verfolgt (...)"
... HAHAHA!

Obwohl Robinson danach nicht mehr reisen wollte, gibt es trotzdem einen dritten Teil. Darin soll er wohl nur noch sein moralisches Gedankengut zum Besten geben. Schon bei der Veröffentlichung des ersten Teils war Robinson Crusoe sehr bekannt und beliebt, deshalb dachte sich Defoe wahrscheinlich, es wäre doch super, mit seinem Gedankenbla die Kuh weiter zu melken, er müsse nur den richtigen Titel auf das Buch klatschen. Den dritten Teil tue ich mir jedenfalls nicht mehr an. Wie dieses moralische Gedankenbla aussieht, kann ich mir vorstellen.


Mein Fazit
oder: Wieder ein Vergleich mit anderen Werken

Von derartigen Klassikern habe ich einige gelesen. Die Schatzinsel fand ich toll; ist ja schließlich von Robert Louis Stevenson, der bei mir auch mit Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde ins Schwarze getroffen hat. Gullivers Reisen ist eher ein utopischer Roman im Stile von Bacons Neu-Atlantis, Campanellas Sonnenstaat oder Morus' Utopia. Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt war für mich gleichfalls unterhaltsam. Ebenso moderne Bücher, die man im Unterricht liest, wie etwa Scott O'Dells Insel der blauen Delphine, wovon ich anschließend, unabhängig vom Schulstoff, sogar noch die Fortsetzung Das verlassene Boot am Strand las.
Aber Robinson Crusoe? Für manche besteht nicht einmal ein Unterschied zu den anderen Werken. Den klassisch ersten Teil fand ich in meiner Kindheit grausig. Seine weiteren Abenteuer gehen dann genauso unwissend, hanebüchen, selbstherrlich, langweilig und schlecht erzählt weiter. Sicher, das Buch ist hornalt. Aber Jonathan Swift hat zur gleichen Zeit geschrieben und Gullivers Reisen beinhaltet geschickte Gesellschaftskritik und tut durch die fantastischen Elemente gar nicht erst so, als könne es sich um Realität handeln.
Gefangenschaft auf einem kleinen Flecken ohne menschlichen Kontakt, das ist das einzige Thema, das ich an Robinson halbwegs interessant finde. Doch daraus hat Defoe überhaupt nichts gemacht. Das, was man heute unter einer Robinsonade versteht, ist überall besser umgesetzt als im Original. Die soziale Isolierung müsste eigentlich durch Robinsons Innenleben rübergebracht werden. Stattdessen: Pflanzungen, Finanzen und Handel. Auf der einen Seite beschäftigt er sich mit funktionalen Gedanken: Was baue ich an? Wie baue ich es an? Wie schütze ich meinen Acker? Was sammle ich dafür? Wie baue ich das auf? Was ernte ich? Was könnte ich jetzt noch Langweiliges tun und mich ewig damit beschäftigen? Der Schreibstil macht all diese Tätigkeiten noch langwieriger und öder. Andererseits beschäftigt sich Robinson mit zweifelhafter, fast schon ekelhaft überlegener Moral. Er wirkt auf mich einfach unsympathisch. Spätestens mit dem Auftauchen von Freitag war es das mit der Isolation und Einsamkeit, doch auch sein neuer Diener scheint kaum Charakter zu haben. Alle auftauchenden Personen wirken wie Pappfiguren, bekommen oftmals von ihm nicht mal einen Namen, sie handeln wie aus weit entfernter Draufsicht. Das ist im ersten Teil so und wird in der Fortsetzung nur schlimmer.
Inhaltlich könnte man Die weiteren Abenteuer des Robinson Crusoe tatsächlich mit Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt vergleichen, das ich in meiner Kindheit ungefähr zur selben Zeit las wie den ersten Teil von Robinson. Die Darstellung von Phileas Fogg und seinem Diener Passepartout war so viel lebendiger und menschlicher als das, was Freitag stellvertretend für die ganzen menschenfressenden Wilden ist oder Robinson für den erhabenen weißen Mann. Ja, das ist es eigentlich: Robinson steht für die Überlegenheit des weißen Mannes und seinen geduldigen Blick auf Wilde, Andersgläubige, Frauen, andere Nationalität usw. Er tut zwar so, als übte er Toleranz, aber stets aus einem erhabenen Blickwinkel. Man muss es wohl der Zeit zuschreiben; das macht es dennoch aus heutiger Sicht zu einer nicht nur ermüdenden, sondern häufig inakzeptablen Lektüre.

Montag, 1. April 2019

Astrid Lindgren: Zwei Brüder und ein Tagebuch

Buchvorstellung
Astrid Lindgren
Die Brüder Löwenherz

Nangilima, so nannte sich früher eine Freundin von mir. Ich kannte damals dieses Buch noch nicht und ich bereue es ein wenig, dass ich es nicht in meiner Kindheit las. Damals mochte ich Pippi Langstrumpf ungemein und noch lieber Mio, mein Mio. Letzteres ist wahrscheinlich heute noch mein Lieblingskinderbuch; ich mochte die Ideen, es hinterließ ein so trostloses, geheimnisvolles Gefühl. Ich malte mir aus, Mio sei gleich zu Beginn des Buches draußen in der Nacht gestorben und alles danach nur Traumgespinst. Das war bloß meine Vorstellung, doch Die Brüder Löwenherz beschäftigt sich genau mit dieser Idee.

Nangijala, das Land hinter dem Tod, so möchte ich es nennen. Und Nangilima, das Land hinter dem Nichts?

Die Brüder Löwenherz
ist ein schönes, ein trauriges Buch, aber vor allem: kein eindeutiges. Es hat mich am Anfang mit Achtung erfüllt, weil hier, in einem Kinderbuch, das Thema Tod so offen angesprochen wurde; wo wir den Tod an so vielen Stellen aus unserer Gesellschaft verbannt haben und uns nicht mehr damit konfrontieren. Andererseits hat es mich zweifeln lassen, weil der Trost hierfür aus Märchen, gefühlten Lügen, zu bestehen schien. Diese Lügen stellten sich dann als Wahrheit heraus. Soll man es verurteilen, einem Kind vom Jenseits zu erzählen, damit es keine Angst hat? Am Ende war ich sogar leicht bedrückt, weil ich mich fragte, ob dieses Buch denn zum Selbstmord einlädt ...

Aber was geschieht eigentlich in Die Brüder Löwenherz? Es handelt von Mut und Angst, von Stärke und Schwäche und von der Gutmütigkeit und Liebe zweier unterschiedlicher Brüder. Und es handelt vom Tod.
Mittlerweile glaube ich, dass es nicht um Selbstmord geht. Jonathan wollte seinen Bruder am Anfang schützen, nicht mit ihm gemeinsam sterben. Und Krümel tat nichts, um ihm zu folgen. Er war nur zuversichtlich, seinen Bruder wiederzusehen und sich nicht fürchten zu müssen. Der Schritt, den die Brüder zum Schluss gemeinsam taten, geschah nicht in der Realität, nicht zur Beendigung ihres Lebens, sondern in einem Land hinter dem Tod. Was endet, ist der Schmerz. Was weitergeht, ist das Leben.

Was glaubst du, was wird nach deinem Tod kommen? Nichts, werden viele sagen. Aber doch, da gibt es etwas. Menschen erinnern sich. Menschen haben sich durch uns verändert. Welleneffekt. Die beiden Brüder waren tapfer, so lange sie konnten, im Kampf und in ihrer Hilfestellung, sie hinterließen etwas. Darum ist es am Ende auch in Ordnung, zu gehen. Das zumindest ist die Botschaft, die ich darin sehe.

Astrid Lindgren schrieb diese Geschichte 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor kurzem las ich ihre, man könnte schon sagen, Kriegstagebücher.


Die Menschheit hat den Verstand verloren
Tagebücher 1939 - 1945

In diesen Aufzeichnungen tritt immer wieder ihr Unverständnis hervor, warum so etwas geschieht und wie erschreckend die Vorstellung ist, dass Kinder mit solchen Erfahrungen aufwachsen. Man kann niemals alt genug dafür sein, aber leider auch nie zu jung.

"[...] ich erinnere mich, dass ich dachte, wenn es noch einmal einen Krieg geben und Schweden daran teilnehmen würde, ich auf Knien zur Regierung rutschen und sie beschwören würde, die Hölle nicht losbrechen zu lassen. Lars würde ich selber erschießen, dachte ich, lieber das, als ihn in den Krieg ziehen zu lassen. Wie müssen sie leiden, die Mütter auf diesem wahnsinnigen Erdball. [...] Die, die ihr Leben bereits im Krieg verloren haben, sind womöglich die Glücklicheren."

Assoziationen sind merkwürdig. Mir fielen hierbei die Htoo-Zwillinge ein bzw. das berühmte Foto, das Weerawong von ihnen schoss. Kindersoldaten, die aussehen, als wären sie 50 Jahre älter.



"Möge, möge, möge es jetzt bald ein Ende haben, jedenfalls mit dem Blutvergießen, dann kommt ja noch all das andere Elend, das auf einen Krieg folgt. Großmutter ist in diesen Tagen so gesund und munter und optimistisch. Sie glaubt, das wieder Fried' und Freud' herrscht, wenn der Krieg nur erst vorbei ist. Sie glaubt vermutlich, die Menschheit wird glücklich, sobald es nur wieder Kaffee gibt und die Rationierungen aufgehoben sind, hier wie im Ausland, aber die unaussprechlich entsetzlichen Wunden, die der Krieg geschlagen hat, werden nicht mit ein bisschen Kaffee geheilt.
Der Frieden kann den Müttern nicht ihre Söhne zurückgeben, Kindern nicht ihre Eltern, den kleinen Hamburger und Warschauer Kindern nicht das Leben. Der Hass ist nicht zu Ende an jenem Tag, an dem der Frieden kommt, jene, deren Angehörige in deutschen Konzentrationslagern zu Tode gequält wurden, vergessen nichts, nur weil Frieden ist, und die Erinnerung an Tausende von verhungerten Kindern in Griechenland wohnt immer noch in den Herzen ihrer Mütter, falls die Mütter selbst überlebt haben. Alle Invaliden werden weiter herumhumpeln, auf einem Bein oder mit einem Arm, alle, die ihr Augenlicht verloren haben, sind noch genauso blind, und jene, deren Nervensystem durch die unmenschlichen Panzerschlachten zerstört wurde, werden auch nicht wieder gesund, nur weil Frieden ist."

Das schrieb Astrid Lindgren 1943.
Ein Jahr später begann sie die Geschichte von Pippi Langstrumpf. Vielleicht als kleines Glück in der Fantasie für ihre verängstigte Tochter. Und als Zuflucht für sich selbst und vor ihren persönlichen Problemen.

"Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum."

Irgendwann ist es für sie, als sei schon immer Krieg gewesen. Etwas, das allgegenwärtig ist, lässt abstumpfen. Umgekehrt scheinen Dinge zu verschwinden, über die wir nicht mehr sprechen und die fern zu sein scheinen, so eben auch Krieg und Tod. Doch diese Dinge sind nicht fern, darum glaube ich, dass Astrid Lindgren auch in ihren Kinderbüchern keine Berührungsängste hatte, um darüber zu schreiben.