Samstag, 31. August 2019

Besser die NPD als die AfD?

Morgen sind Landtagswahlen in Sachsen. Ich habe den Wahl-O-Mat konsultiert und der sagt mir, ich solle zu 75% Die PARTEI wählen. Der Wahl-O-Mat versteht also, dass ich zynisch bin. Er sagt mir auch, dass die AfD mit 29,5% die letzte Partei ist, die ich wählen sollte. Sogar im Gegensatz zu den 38,6% für die NPD. Ich soll also lieber die NPD wählen als die AfD ...? Woran das liegt, kann ich nicht ausmachen. Vielleicht hat die NPD keine Wolfsbeauftragte Frau Grimm, die dafür sorgt, dass unsere Kinder nicht von Wölfen gerissen werden. Vielleicht hat die NPD nicht die Idee, Drohnen mit Wärmebildkameras über unseren Feldern einzusetzen, um Rehkitze vorm Mähdrescher zu retten. Das ist kein Scherz, steht alles in ihrem Wahlprogramm, unter der Überschrift: "Altparteien lassen unsere Tierwelt brutal sterben." Und das von einer Partei, die den Klimawandel leugnet.
Ein Viertel der Sachsen soll sie ja trotzdem wählen, daran ändern auch Skandale nichts. Und ich kann es mir vorstellen, wenn ich manchen Leuten in meinem Umfeld so zuhöre. Der alten Dame zum Beispiel, die in der Straßenbahn den nächsten Dreckhügel an einer Baustelle zum Anlass nimmt, um die Flüchtlinge dafür verantwortlich zu machen. Oder den Leuten im Pausenraum auf Arbeit, die den alten Spruch "Die nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg" wie ein Mantra wiederholen, während in Dresden händeringend an jeder Ecke nach Arbeitskräften gesucht wird.
Die Fragen des Wahl-O-Mats geben diese Ansichten und Prioritäten ziemlich gut wieder. Ich versuche das mal sinngemäß zu rekonstruieren: Eigene sächsische Grenzpolizei? Soll Wohngeld nur Deutschen zukommen? Sollen Asylbewerber in Abschiebehaft genommen werden? Was sind das für Fragen? Die wirklich wichtigen Inhalte erscheinen dagegen zweitrangig. Der Schwerpunkt wird verschoben.
Es sind die immer gleichen Phrasen, die aus der allgemeinen, teils unbegründeten Unzufriedenheit der Menschen heraus entstehen. Das heißt nicht, dass es uns super geht. Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, wir investieren viel zu wenig, machen durch die schwarze Null unsere Wirtschaft kaputt, vernachlässigen die Bildung und Infrastruktur usw. usw. Aber die AfD fürchtet sich vorm bösen Wolf? Das ist bezeichnend und war bereits damals beim Wahlerfolg der NSDAP Trend. Wirtschaftskrise und hohe Arbeitslosenquote in den 30er Jahren bescherten ihnen diesen Wahlerfolg, aber er ging nicht von den tatsächlich Betroffenen aus, sondern von jenen, denen es eigentlich gut ging und die nur eine diffuse Angst verspürten. "Panik im Mittelstand" nannte es der Soziologe Theodor Geiger. Eine Angst vor dem, was einseitige Berichterstattung einem vorgaukeln kann, vor Überfremdung oder davor, irgendwelches Geld weggenommen zu bekommen, von dem man gar keine Ahnung hat, wo es überhaupt anfällt und wo es hinfließt. Es ist die Suche nach simplen Antworten und eben die Angst vorm bösen Wolf.
Ich sehe die AfD keineswegs als gleichwertige Gefahr wie die NSDAP, sondern betrachte nur die Tendenz von Menschen zu Umbruchzeiten, die sich verschiedenen Extremen zuneigen. Thomas Childers bezeichnete die NSDAP als "Sammelbewegung des Protestes". Auch die AfD ist ein Sammelbecken für alle Schichten, obwohl es durchaus höhere prozentuale Anteile gibt, wie etwa den männlichen Arbeitnehmer mittleren Alters. Und von diesem, so meine Erfahrung, höre ich auch die meisten Mythen. Dass wir wieder stolz sein sollen, zum Beispiel auf unsere deutschen Soldaten im Weltkrieg. Wir sollten einen Begriff wie "völkisch" wieder etablieren, er sei ja grundsätzlich nichts Schlechtes. Der Autobahnbau hätte Arbeitsplätze geschaffen, die Wirtschaftskrise sei überwunden worden, es hätte Konsum und Wohlstand gegeben und nur so ein Quatsch. Aber ein Mythos muss ja nicht wahr sein, um Wirkung zu entfalten.
Nein, ich finde die AfD nicht unbedingt gefährlich, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Und ich glaube auch nicht, dass es der richtige Weg ist, sie aus jeder Diskussion auszuschließen und ihre Wähler per se als Idioten zu bezeichnen. Wie gesagt, diese Wähler kommen aus jeder Schicht und werden nur frustrierter und engstirniger, wenn man sie so darstellt, glaube ich. Auch wenn die Diskussion wie das Schachspiel mit einer Taube ist. Doch ich glaube, wenn die AfD stärker an der Regierung partizipiert, werden wir uns noch viel mehr mit unnötigem Quatsch beschäftigen und nicht mit den wirklich wichtigen Dingen.
Darum zum Abschluss noch ein Video von Semsrott. Vielleicht sollte ich doch Die PARTEI wählen. Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Dienstag, 27. August 2019

Buchvorstellung: Atomphysik in Japan

Morris Low
Science and the Building of a New Japan
"Die Entwicklung der Atomphysik in Japan anhand des biografischen Profils ihrer Macher zur Zeit des Pazifikkrieges und danach" - so oder so ähnlich sollte der Untertitel dieser Abhandlung lauten. Denn der Titel ist etwas irreführend und somit das eigentliche Problem dieses Werkes. Es geht nicht in erster Linie um den Aufbau der japanischen Wissenschaft im Allgemeinen, nicht einmal um Naturwissenschaft, sondern vor allem um nukleare Energiegewinnung angesichts der Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki. Stellt man sich die Frage, warum sich Japan dem Slogan "Atoms for Peace" derart unkritisch anschloss und Proteste vor allem gegen Atomwaffen, nicht gegen zivile Kernenergienutzung gerichtet waren, findet man in diesem Buch ein paar Antworten darauf.
Nach der Meiji-Restauration war Japan gezwungen, sich der Welt zu öffnen und sich auch wissenschaftlich von den westlichen Nationen in das neue Jahrhundert führen zu lassen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Nicht wenige japanische Wissenschaftler hatten Erfahrungen in Übersee gesammelt und Bekanntschaften mit internationalen Kollegen geschlossen. Diese Einflüsse waren im Zweiten Weltkrieg nicht plötzlich verschwunden. In Morris Lows Abhandlung wird herausgearbeitet, wie einzelne Wissenschaftler in ihrer Forschung auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagierten, zum Beispiel Yoshio Nishina oder die beiden Nobelpreisträger Shinichiro Tomonaga und Hideki Yukawa. Deren Lebensläufe und persönlichen Ansichten werden sehr genau in den Blick genommen.
Stellenweise sind die Biografien zu ausführlich und auch die Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung anhand von diversen Institutionen etc. geht sehr ins Detail und verkommt manchmal zu einer Aufzählung von Daten und Fakten. Die Grundlagen und Zusammenhänge etwa durch die Zaibatsu oder die politische Situation hätten stärker herausgearbeitet werden können.
Insgesamt ist Science and the Building of a New Japan jedoch ein sehr informatives Werk und dient vor allem dazu, vorhandene Kenntnisse zu vertiefen, um daraus eigene Schlüsse zu ziehen.

Antonia S. Byatt: Kurzgeschichten

Antonia S. Byatt
Stern- und Geisterstunden
Das war ein Zufallskauf unter Mängelexemplaren. Eine Sammlung von Kurzgeschichten.
Diesmal mache ich es anders. Eine Minimalbuchvorstellung. Ich fasse die jeweilige Handlung in einem Satz zusammen, dann wähle ich aus der Geschichte einen Satz als Zitat aus und anschließend noch irgendein Wort.
Der Juligeist
Inhalt: Jemand begegnet dem Geist eines Jungen, dessen Mutter ihn nicht sehen kann.
Zitat: "Der Junge, der in dem Baum saß, schien nicht nach einem Ball zu suchen."
Wort: Dauphinisierung
Der Tag an dem E. M. Forster starb
Inhalt: Eine Schriftstellerin entschließt sich, all ihre Romanideen in einem einzigen Werk zusammenzufassen, und begegnet einem paranoiden Mann.
Zitat: "Indem sein Werk nunmehr wahrhaftig in die Vergangenheit eingegangen war, konnte sie in gewissem Sinne darüber verfügen, stand es ihr zur Verfügung als etwas, wovon sie lernen konnte, war es offiziell beendet."
Wort: Motette
In der Luft
Inhalt: Eine dicke, paranoide Frau mit Hund begegnet beim Spaziergang einer blinden, mutigen Frau mit Hund.
Zitat: "Sie sah, wie sie unbeirrt weiterschritt, auf dem schmalen Grat zwischen Stürmen und unsichtbaren Abgründen unendlich schlimmerer Ängste, als es die ihren waren."
Wort: Paspel
Das Ding im Wald
Inhalt: Zwei kleine Mädchen treffen nach der Kriegsevakuierung im Wald auf ein Ding.
Zitat: "Schier endlos kam das Ding gekrochen, beugte und brach alles, was ihm in den Weg kam, samt den Büschen, doch den kräftigen Bäumen wich es aus und wand sich schwerfällig zwischen ihnen hindurch."
Wort: Zentifolien
Körperkunst
Inhalt: Die Geburtenstation einer Klinik soll verschönert und eine alte Sammlung archiviert werden, während eine dürre Kunststudentin kein Zuhause und der leitende Arzt kein Mitleid hat.
Zitat: "Es ist nicht schwer, menschlich zu sein, solange man sich dazu anhalten kann."
Wort: Bakelit
Frau aus Stein
Inhalt: Eine Frau wird allmählich zu Stein und folgt einem Bildhauer nach Island, um mit den Trollen zu tanzen.
Zitat: "Die menschliche Welt der Steine ist in organischen Metaphern gefangen wie die Fliege im Bernstein."
Wort: Luffagurke
Rohstoff
Inhalt: Jedes Jahr hält er einen Kurs für dilettantische Hobbyautoren ab, doch diesmal ist jemand dabei, der es versteht, darüber zu schreiben, wie man früher den Herd mit Ofenschwärze gereinigt hat.
Zitat: "Er hatte es aufgegeben, ihnen zu erklären, dass kreatives Schreiben nicht eine Form von Psychotherapie sei."
Wort: Kolportage
Das rosafarbene Band
Inhalt: Ein alter Mann kümmert sich um seine Frau, die ihn nicht mehr erkennt, bis eines Abends eine junge Dame im roten Kleid vor seiner Tür steht.
Zitat: "Und sie küssten sich, mit Ruß auf der Zunge und mit der brennenden Stadt in ihren Lungen."
Wort: Amnion

Sonntag, 4. August 2019

Wertewandel der digitalen Gesellschaft

Gar nicht so einfach, diesem Thema einen Namen zu geben. Bei Wertewandel denken wir wahrscheinlich in erster Linie an gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen, aber mir geht es hier auch um die Definition des Wertes an sich, um das neue Kapital und um eine moderne Interpretation von Marx, die uns mittlerweile an vielen Stellen begegnet.
Ich möchte in diesem Eintrag ein paar Videos sammeln, die sich mit dem Wertewandel unserer Gesellschaft in jener doppelten Auslegung befassen. Das dient mir eigentlich zur Übersicht und um ein paar Gedanken festzuhalten. Aber vielleicht findet auch der eine oder andere Mitleser etwas Interessantes für sich oder hat etwas beizusteuern.
Digitaler Kapitalismus
Michael Seemann beschäftigt sich hier mit der Frage, wie sich durch die Digitalisierung das Kapital eines Unternehmens wandelt und was für Auswirkungen das auf Eigentum, Arbeit, Markt und Wachstum hat. Frühere Definitionen dieser Aspekte können solche modernen Unternehmensstrukturen nicht mehr erfassen (genauso wenig, wie es unsere Steuern tun).
Seemann ist nicht der beste Redner, aber seine Darstellung ist auch für Laien leicht verständlich. Er schneidet nachvollziehbar ein paar Negativaspekte von Datensammlung / Big Data an, beispielsweise Preisdiskriminierung durch das Abgreifen eines consumer surplus. Die Probleme müssen demnach nicht gleich bei Horrorszenarien wie in China beginnen.
Digitale Dystopie in China
Trotzdem ist Big Data in China das Beispiel schlechthin für eine Dystopie der Digitalisierung. Noch ein Beleg dafür, dass unsere Vorstellungen von Kapitalismus und Sozialismus langsam obsolet geworden sind, denn die Kontrolle der Regierung wird in diesem Fall über das Punktesystem von Alibaba ausgeübt, also mit kapitalistischen Mitteln.
Es ist wie eine Payback-Karte für Gedankenkontrolle. Wer die richtigen Produkte kauft, bekommt Pluspunkte und somit Vergünstigungen in allen Bereichen, er erhält Reisefreiheit und Vorteile im Job. Wer hingegen die falschen Produkte kauft (Alkohol, Videospiele etc.) oder sich auffällig verhält, seine Rechnungen zum Beispiel nicht pünktlich zahlt, erhält Punktabzug. In Zukunft kann es sich in China ebenso negativ auswirken, mit den falschen Leuten befreundet zu sein. Um den eigenen Wohlstand nicht zu gefährden, nimmt man vielleicht lieber Abstand von Menschen, die einen niedrigen Punktescore haben. Somit können der Regierung unliebsame Personen sozial isoliert werden, ohne sie überhaupt noch inhaftieren zu müssen.

Yanis Varoufakis
Zurück zu Europa und einem Mann, den ich sehr schätze: Yanis Varoufakis, ehemaliger Finanzminister in Griechenland. Es ist zwar eine Sendung über Philosophie, aber in dem Gespräch geht es viel eher um Politik und Wirtschaft. Die ersten zehn Minuten drehen sich größtenteils um Kindheit und Jugend von Varoufakis, danach reitet der Moderator lange auf unwichtiger Kleiderordnung rum. Der ist mir ohnehin unsympathisch, zitiert falsch und haut sogar ein paar eigentlich schon rassistische Aussagen raus (die Griechen seien ein unehrliches Volk oder so). Aber nach einer Viertelstunde geht es dann um Kapitalismus und den Unterschied zwischen Preis und Wert bzw. eine neue Art von Wertschöpfung, die von Kapital und Geld unabhängig ist.
Es geht u.a. um die Entfremdung von der eigenen Arbeit und um Disintermediation in allen Bereichen. Viele Berufsfelder sind überflüssig geworden, ein Resultat davon sind Bullshit-Jobs, daher sollten wir uns darauf besinnen, welchen (Lebens-)Wert wir uns wirklich erarbeiten. Ein paar der angeschnittenen Aspekte werden auch im folgenden Jung&Naiv-Interview nochmal aufgegriffen.
Varoufakis über die Situation in Europa
Das Interview ist vom letzten Jahr, Varoufakis sagt bereits den Untergang der SPD bei der folgenden Wahl voraus, was vielleicht kein Talent ist, wenn man die Entwicklung beobachtet hat. Interessanter ist allerdings seine Vorstellung von einem bedingungslosen Grundeinkommen, das er mehr als einen Anteil am Kapital der digitalisierten Großkonzerne sieht. Damit sind wir wieder beim ersten Thema angelangt: Big Data als neuem Kapital der Unternehmen. Da wir gezwungenermaßen unsere Daten abgeben und Konzerne damit arbeiten, sind wir quasi zu inoffiziellen Mitarbeitern geworden. Daher fordert Varoufakis eine Dividende für alle Bürger aus dieser neuen Wertschöpfung.
Anfangs noch belächelt und für naiv und utopisch gehalten, so ist das bedingungslose Grundeinkommen mittlerweile in die politischen Diskussionen eingegangen. Auch das ist ein Zeichen des doppelten Wertewandels unserer Gesellschaft.
Richard David Precht über den historischen Kontext
Precht sieht die mögliche Umsetzung eines bedingungslosen Grundeinkommens in einer Finanztransaktionssteuer. Das Interview hier ist ganz informativ, weil er auf die Entwicklung der letzten 100 Jahre eingeht und erklärt, warum das keine Träumerei, sondern eher ein logischer Schritt ist, da sich unsere Gesellschaft in diesem tiefgreifenden Wandel befindet.
Anfang der 70er Jahre gab der Club of Rome mit den "Grenzen des Wachstums" eine noch heute bekannte Studie in Auftrag, die den Fortschritt, nicht nur mit Blick auf die Ressourcen, in seine Schranken weist. Die Vorteile des Kapitalismus und der Globalisierung trugen zum Frieden bei und gingen mit einer Fortschrittsgläubigkeit einher. Fortschritt war automatisch positiv konnotiert. Aber diese Perspektive sollte nun langsam zu einem Ende kommen. Eine moralische Umorientierung zeichnet sich bereits ab und spiegelt sich in den zahlreichen Debatten über Nachhaltigkeit wider. Der Wandel sollte sich aber auch bei Bildung, Arbeit und Wertschöpfung zeigen.