Dienstag, 30. Juni 2009

Rittlings über dem Grabe geboren

"Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages bin ich blind geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick, genügt Ihnen das nicht? Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht."

"Habe ich geschlafen, während die anderen litten? Schlafe ich gar in diesem Augenblick? Wenn ich morgen glaube, wach zu werden, was werde ich dann von diesem Tag sagen? Was wird wahr sein von alledem? Rittlings über dem Grabe und eine schwere Geburt. Aus der Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die Zange an. Man hat Zeit genug, um alt zu werden. Die Luft ist voll von unseren Schreien. Aber die Gewohnheit ist eine mächtige Sordine. Auch mich, auch mich betrachtet ein anderer, der sich sagt, er schläft, er weiß von nichts, lass ihn schlafen. Ich kann nicht mehr weiter."
Warten auf Godot von Samuel Beckett

Mittwoch, 24. Juni 2009

Schubladendenken


Und dann werden wieder Schubladen gefordert. "Schubladen, Schubladen", brüllen sie auf den Straßen, machen Fackelzüge durch Innenstädte, kloppen auf Trommeln und brüllen: "Schubladen, Schubladen". Zumachbare, geschlossene, solche, in die man bequem Kinderhände quetschen kann, wenn sie nach karieserzeugendem Süßkram langen, die dicken, bereits im Kindergartenalter verbitterten Biester. Menschen halten ja so gerne fest an dieser Schubladenromantik, denken immer "was draufsteht, ist drin" und so. Auch wenn auf der Lade ein Aufkleber mit der Aufschrift "Subkultureller Individualist" klebt, dann kann ein Typ drin sein, der so sehr auf Archivierung steht, dass er selbst zu einer geworden ist. Und in der Lade mit der "bequemen Kleidung", da ist ja auch meistens die Zwangsjacke drin. Ich plädiere hier nochmal für das undramatische Verbrennen von Schubladen. Die Dinger stören Abläufe, das Auf- und Zumachen ist Zeitverlust.
Dirk Bernemann

Mittwoch, 10. Juni 2009

Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod

Die Erzählung wiegt den in Kauf genommenen Tod auf.
Dieses Thema des Erzählens oder des Schreibens, das dazu bestimmt ist, den Tod zu bannen, hat in unserer Kultur eine Metamorphose erfahren.
Das Schreiben ist heute an das Opfer gebunden, sogar an das Opfer des Lebens, an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es sich im Leben des Schriftstellers selbst vollzieht. Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen.
Die Beziehung des Schreibens zum Tod zeigt sich auch im Verblassen der individuellen Züge des schreibenden Subjekts. Durch alle Barrieren, die das schreibende Objekt zwischen sich und dem, was es schreibt, errichtet, bringt es alle Zeichen seiner individuellen Besonderheit durcheinander. Das Merkmal des Schriftstellers besteht nur noch in der Eigentümlichkeit seiner Abwesenheit. Er muss die Rolle des Toten im Spiel des Schreibens einnehmen.
Michel Foucault

Sonntag, 7. Juni 2009

Elle me ne regarde pas

Die Geschichte ist wahr. Sie stammt aus der Zeit meiner, ich würde sagen, meiner Zwanzigerjahre - ich hatte damals, als junger Intellektueller, natürlich nichts Besseres zu tun als rauszugehen und mich irgendeiner Tätigkeit hinzugeben, die nur direkt und ländlich sein sollte, also zum Beispiel Jagd oder Fischen. Eines Tages nun war ich auf einem kleinen Boot zusammen mit einigen Leuten aus einer Fischersfamilie, die an dem kleinen Hafen zu Hause war. Damals war unsere Bretagne noch unberührt von der Großindustrie, und Fischerei im großen Stil gab es noch nicht. Die Fischer fischten in ihrer Nussschale auf eigenes Risiko und eigene Gefahr. Und eben dieses: Gefahr und Risiko wollte ich mit ihnen teilen. Nur gab es Gefahr nicht immer, es gab auch Tage schönsten Wetters. Eines Tags nun, wir warteten auf den Augenblick, wo die Netze eingeholt werden sollten, zeigt mir ein gewisser Petit-Jean, wir nennen ihn so - er ist mit seiner ganzen Familie dann plötzlich von der Tuberkulose dahingerafft worden, die damals tatsächlich so etwas wie die Krankheit einer ganzen Sozialschicht war - eines Tags also zeigt mir Petit-Jean ein Etwas, das auf den Wellen dahinschaukelte. Es war eine kleine Büchse, genauer gesagt: eine Sardinenbüchse, ausgerechnet. Da schwamm sie also in der Sonne, als Zeuge der Konservenindustrie, die wir ja beliefern sollten. Spiegelte in der Sonne. Und Petit-Jean meinte:
Siehst du die Büchse? Siehst du sie? Sie, sie sieht dich nicht!
Er fand sie sehr lustig, die kleine Geschichte, ich weniger. Ich habe mich gefragt, warum ich sie weniger komisch fand. Das ist sehr aufschlussreich.
Zunächst, wenn es einen Sinn haben soll, dass Petit-Jean mir sagt, dass die Büchse mich nicht sehe, so deshalb, weil sie in einem bestimmten Sinn mich tatsächlich anblickt, angeht.* Sie blickt mich an auf der Ebene des Lichtpunktes, wo alles ist, was mich angeht, und das ist hier durchaus nicht als Metapher gemeint.
Was erklärt die Bedeutung dieser kleinen Geschichte, die ich dem Einfall des Gefährten verdanke, und was erklärt, dass er sie so komisch fand und ich weniger? Die Geschichte ist mir erzählt worden, weil ich in dem Moment damals - so wie ich mich geschildert habe zusammen mit diesen Leuten, die so schwer für ihre Existenz zu schuften hatten in fortgesetztem Kampf gegen etwas, was für sie rohe Natur hieß - weil ich damals also ein unsäglich komisches Bild gemacht haben muss. Oder vielmehr: Ich fiel aus dem Bild heraus, ich machte mehr oder weniger einen Fleck im Bild.** Und weil mir das bewusst ist, kann nichts mich bei dieser komischen, ironischen Geschichte, die ich mich jetzt hervorbringen höre, davon abbringen, sie wenig komisch zu finden.
Jacques Lacan
* Elle me regarde: Der Doppelsinn des Französischen "sie blickt mich an" und "sie geht mich an"
** Je faisais tant soit peu tache