Freitag, 21. August 2009

Halbundhalbmensch

Es gibt ziemlich viele Menschen, die alle zwei Seelen haben, zwei Wesen in sich, in ihnen ist Göttliches und Teuflisches, ist mütterliches und väterliches Blut, ist Glücksfähigkeit und Leidensfähigkeit ebenso feindlich und verworren neben- und ineinander vorhanden, wie Wolf und Mensch. Und diese Menschen, deren Leben ein sehr unruhiges ist, erleben zuweilen in ihren seltenen Glücksaugenblicken so Starkes und unnennbar Schönes, der Schaum des Augenblicksglückes spritzt zuweilen so hoch und blendend über das Meer des Leides hinaus, dass dies kurze aufleuchtende Glück ausstrahlend auch andere berührt und bezaubert. So entstehen, als kostbarer flüchtiger Glücksschaum über dem Meer des Leides, alle jene Kunstwerke, in welchen ein einzelner leidender Mensch sich für eine Stunde so hoch über sein eigenes Schicksal erhob, dass sein Glück wie ein Stern strahlt und allen denen, die es sehen, wie etwas Ewiges und wie ihr eigener Glückstraum erscheint. Alle diese Menschen, mögen ihre Taten und Werke heißen wie sie wollen, haben eigentlich überhaupt kein Leben, das heißt, ihr Leben ist kein Sein, hat keine Gestalt, sie sind nicht Helden oder Künstler oder Denker in der Art, wie andere Richter, Ärzte, Schuhmacher oder Lehrer sind, sondern ihr Leben ist eine ewige, leidvolle Bewegung und Brandung, ist unglücklich und schmerzvoll zerrissen und ist schauerlich und sinnlos, sobald man den Sinn nicht in ebenjenen seltenen Erlebnissen, Taten, Gedanken und Werken zu sehen bereit ist, die über dem Chaos eines solchen Lebens aufstrahlen. Unter den Menschen dieser Art ist der gefährliche und schreckliche Gedanke entstanden, dass vielleicht das ganze Menschenleben nur ein arger Irrtum, eine heftige und missglückte Fehlgeburt der Urmutter, ein wilder und grausig fehlgeschlagener Versuch der Natur sei. Unter ihnen ist aber auch der andere Gedanke entstanden, dass der Mensch vielleicht nicht bloß ein halbwegs vernünftiges Tier, sondern ein Götterkind und zur Unsterblichkeit bestimmt sei.
Der Steppenwolf von Hermann Hesse

Mittwoch, 19. August 2009

Das Bildnis des Mr. W. H.

Aus welchem Stoff, woraus schuf dich Natur,
Dass tausend fremde Schatten sich dir weihen?
Hat jeder hier doch einen einzgen nur,
Und du kannst alle, alle Schatten leihen.
William Shakespeare

Die Schminke braucht sich nicht zu verbergen,
Sie muss nicht vermeiden, dass man sie erahnt;
Sie mag sich im Gegenteil zur Schau stellen
- wenn schon nicht geziert, so doch ganz offen.
Charles Baudelaire

Ein Zugeständnis an jeden Schatten, jeden Schauspieler, der die Wahrheit so perfekt zu verschleiern vermag.

Das Bildnis des Mr. W. H.
Wer war Mr. W. H., dem Shakespeare seine berühmten Sonette widmete? Wer der hübsche junge Mann, der in den meisten der Gedichte angesprochen wird? Cyril Graham, der Held in Oscar Wildes Geschichte, meint das Rätsel gelöst zu haben. Allein ein handfester Beweis fehlt ihm noch.
Wildes virtuose Geschichte einer Obsession ist zugleich ein amüsantes Verwirrspiel über Kunst und Leben.
"Alle bezaubernden Leute sind verdorben. Es ist das Geheimnis ihres Reizes."
"Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach."
"Es ist stets töricht, Ratschläge zu geben, aber gute Ratschläge zu geben ist absolut verhängnisvoll."
"Eine Sache muss nicht unbedingt wahr sein, nur weil ein Mensch für sie stirbt."
"Für seine religiöse Überzeugung zu sterben ist der schlechteste Gebrauch, den ein Mensch von seinem Leben machen kann."
"Entsprang die Tragödie nicht den Leiden des Dionysos? Wurde nicht das unbeschwerte Lachen der Komödie mit ihrer sorglosen Fröhlichkeit und ihren munteren Entgegnungen zuerst von den Lippen sizilianischer Weingärtner vernommen? Ja, gab nicht das Purpur und Rot des Weinschaums auf Gesicht und Gliedern die erste Andeutung vom Reiz und Zauber der Verkleidung - zeigte sich so nicht in den ungeschickten Anfängen der Kunst die Sehnsucht, sein Ich zu verbergen, das Gefühl für den Wert der unpersönlichen Darstellung?"
"Vielleicht hat man, wenn man den vollendeten Ausdruck für eine Leidenschaft findet, die Leidenschaft selbst erschöpft. Gefühlskräfte haben wie die physischen Kräfte ihre vorgeschriebenen Grenzen. Vielleicht geht Hand in Hand mit dem bloßen Versuch, jemanden zu einer Theorie zu bekehren, eine Art Verzicht auf die Glaubensfähigkeit. Vielleicht ist man der ganzen Sache dann einfach müde, und da die Begeisterung ausgebrannt ist, bleibt die Vernunft ihrem eigenen leidenschaftslosen Urteil überlassen."
Oscar Wilde

Dienstag, 11. August 2009

"Du willst Kira töten?"

Kashino: "Sie haben dich also entlassen..."
Makio: "Nun, vorläufig schon, wie es aussieht. Aber solche Läden gibt's sowieso nur der Form halber... Du kommst rein und wenn du wieder rauskommst, hat sich nicht viel getan. Aber das weißt du ja selbst am besten, nicht wahr?"
Kashino: (Pause.) "Ich war neulich in der Psychiatrie."
Makio: "Ja, ich hab dich dort zufällig im Park gesehen. Aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du wieder in Behandlung musst?"
Kashino: "Aber nein... Ich habe einen Arzt besucht, den ich von früher kenne."
Makio: (Pause.) "Ja, ich dachte mir das schon... Wäre ja auch seltsam, wenn einer, der kurz vor seiner Hochzeit steht..."
Kashino: "Woher weißt du davon?"
Makio: (Lachen.) "Hör mal, so viel bekomme selbst ich noch mit. An jeder Ecke hört man Gerüchte über euch. Und selbst ich habe so meine Freunde..." (Lächeln.) "Du willst schon wieder etwas ganz für dich haben. Trotz dieser Erfahrung damals... Was passiert, wenn du es auch diesmal wieder verlierst? Zum zweiten Mal, das wird eine bittere Pille für dich."
Kashino: (Pause.) "Du willst Kira töten?"
Makio: "Tja, was könnte ich mit Verlieren wohl meinen?"
Kashino: "Wenn ich Kira verlieren würde... müsste ich dich wohl töten. Egal, ob das ein Fehler wäre oder nicht. Egal, wie lange es dauern würde oder welche Mittel dazu nötig wären. Es würde zu meinem Lebenszweck werden. Allerdings... was wohl danach käme? Wenn ich Kira verloren und dich getötet hätte. Selbst wenn ich weiterleben könnte, würde ich meines Lebens... wohl nicht mehr froh." (Lachen.) "Nicht mehr froh? Das sagt sich so leicht..."
Makio: "Was gibt's da so blöd zu kichern, Kashino? Was soll das, hier den coolen Erwachsenen zu spielen, der über allem steht?"
Kashino: (Pause.) "Ich will hier nicht den Erwachsenen spielen. Ich stehe auch ganz und gar nicht über der Sache. Aber egal, was mir passiert, und egal, was ich tue... es wäre eine Tatsache, vor der ich nicht weglaufen könnte. Auch wenn ich es ignorieren würde. Auch wenn ich anderen die Schuld gäbe und mich an meiner Umgebung abreagieren würde. Wenn ich abends allein im Bett liege und die Augen schließe, würde es mich überkommen. Dieses Gefühl, ohnmächtig zu sein..."
Makio: "Hör jetzt auf! Was ist denn mit dir los?! Wieso redest ausgerechnet du so ein Zeug?! Du warst doch früher auch nicht so drauf! Was soll dieses altmodische moralische Getue?!"
Stimme im Hintergrund: "Wenn du berühmt werden willst, musst du einen umbringen..." (Kashino und Makio sich umwendend, unbemerkt zuhörend.) "Na ja, es ist nicht besonders originell, aber... mit 'nem Mord geht's nun mal am schnellsten. Dein Gesicht dürfen sie auch nicht zeigen. Also wenn, dann müsste man's bald tun. Bevor unsere Zeit abläuft*, sozusagen." (Lachen.)
Makio: "Wie will der Kerl berühmt werden, wenn keiner seinen Namen und sein Gesicht kennt? Diese Durchschnittsidioten finde ich am schlimmsten, Kashino. Es ist schon widerlich, dass sie die gleiche Luft atmen wie man selbst. Aber wirklich unerträglich ist... dass solche Typen das gleiche Recht auf Leben haben wie man selbst. Egal, wie widerlich und überflüssig die sind, wenn du einen umbringst, bist du ein Verbrecher. In so einer Welt leben zu müssen... ist an sich schon unerträglich."
Kashino: "Seltsam, Makio... ich dachte immer, dass du alle Menschen außer dir selbst für Müll und Abschaum hältst. Dann versteh ich eins nicht... Irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese dummen Kerle mit ihrem dummen Geschwätz dich eben ganz schön beeindruckt haben." (Pause.) "Bist halt doch ein armes Schwein, Makio."
Makio: (Kashino wütend Wasser ins Gesicht schüttend.) "Mich beeindruckt, sagst du?! Diese Typen?! Mich?! Du meinst, dass solche Kerle mir überlegen sind?! Dass ich ein armes Schwein bin?!" (Schreiend.) "So etwas muss ich mir von dir nicht bieten lassen!"
Kashino: (Pause.) "Sieh mal an... du kannst ja richtig laut werden." (Pause.) "Jetzt hast du mich zum ersten Mal an einen Menschen erinnert."
Mars von Fuyumi Soryo

* Kinder unter 14 Jahren sind in Japan nicht strafmündig.