Freitag, 25. September 2009

Selbstmörder

Es ist falsch, wenn man nur jene Menschen Selbstmörder nennt, welche sich wirklich umbringen. Unter diesen sind sogar viele, die nur gewissermaßen aus Zufall zum Selbstmörder werden, zu deren Wesen das Selbstmördertum nicht notwendig gehört. Unter den Menschen ohne Persönlichkeit, ohne starke Prägung, ohne starkes Schicksal, unter den Dutzend- und Herdenmenschen sind manche, die durch Selbstmord umkommen, ohne darum in ihrer ganzen Signatur und Prägung dem Typus der Selbstmörder anzugehören, während wiederum von jenen, welche dem Wesen nach zu den Selbstmördern zählen, sehr viele, vielleicht die meisten, niemals tatsächlich Hand an sich legen. Der "Selbstmörder" braucht nicht notwendig in einem besonders starken Verhältnis zum Tode zu leben - dies kann man tun, auch ohne Selbstmörder zu sein. Aber dem Selbstmörder ist es eigentümlich, dass er sein Ich, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht, als einen besonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, dass er sich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stünde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrer Schicksalslinie dadurch gekennzeichnet, dass der Selbstmord für sie die wahrscheinlichste Todesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Voraussetzung dieser Stimmung, welche fast immer schon in früher Jugend sichtbar wird und diese Menschen ihr Leben lang begleitet, ist nicht etwa eine besonders schwache Lebenskraft, man findet im Gegenteil unter den "Selbstmördern" außerordentlich zähe, begehrliche und auch kühne Naturen. Aber so wie es Naturen gibt, die bei der kleinsten Erkrankung zu Fieber neigen, so neigen diese Naturen, die wir "Selbstmörder" heißen und die stets sehr empfindlich und sensibel sind, bei der kleinsten Erschütterung dazu, sich intensiv der Vorstellung des Selbstmordes hinzugeben.
Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werden muss), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinenden Schwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Er macht aus der Vorstellung, dass ihm zu jeder Stunde der Weg in den Tod offenstehe, nicht bloß ein jugendlich-melancholisches Phantasiespiel, sondern baut sich aus ebendiesem Gedanken einen Trost und eine Stütze. Zwar ruft in ihm jede Erschütterung, jeder Schmerz, jede üble Lebenslage sofort den Wunsch wach, sich durch den Tod zu entziehen, allmählich aber schuf er sich aus dieser Neigung gerade eine dem Leben dienliche Philosophie. Die Vertrautheit mit dem Gedanken, dass jener Notausgang beständig offenstehe, gibt ihm Kraft, macht ihn neugierig auf das Auskosten dieser Schmerzen und üblen Zuständen, und wenn es ihm recht elend geht, kann er zuweilen mit grimmiger Freude, einer Art Schadenfreude, empfinden:
"Ich bin doch neugierig zu sehen, wie viel eigentlich ein Mensch auszuhalten vermag. Ist die Grenze des noch Erträglichen erreicht, dann brauche ich ja bloß die Tür zu öffnen und bin entronnen."
Es gibt sehr viele Selbstmörder, denen aus diesem Gedanken ungewöhnliche Kräfte kommen.
Der Steppenwolf von Hermann Hesse

Montag, 14. September 2009

Halb bin ich du

Vorlage für den Einzelteil
UnterHalb

Wenn du in den Spiegel siehst, dann erkennst du mich nicht, weil ich es nicht will. Dann verstecke ich mich im Glas hinter einer namenlosen Maske und warte. Das Leben ist ein ständiges Warten. Ein Warten auf Godot? Ein Warten darauf, dass die Tür zum Gerichtssaal geschlossen wird und man nie hindurchgegangen ist, obgleich jene Tür für einen bestimmt war? Nur ich sitze hier und schaue dir zu, solange du mich nicht beachtest. Du erkennst, wer ich bin, wenn ich es will. Dann lasse ich dich in einer ruhigen Sekunde innehalten und zwinge dich, mir in die Augen zu schauen. Was siehst du? Siehst du mich? Halb dich, halb nichts.
Während du erwachsen wurdest, bin ich das Kind einer Mutter, die lediglich eine Frau, allenfalls eine Freundin war, und das Kind vieler Männer, die nie meine Väter waren. Meine halbe Mutter nannte ich stets beim Namen, während du ihr noch einen Titel gegeben hast. Halb verschämt, halb mutig, halb lügend, Halbkind. Doch ähnlich wurdest du ihr dennoch, auch wenn du stets mehr wie dein Vater sein wolltest. Mehr wie er, dem Individuum in dir, dem Unbekannten in ihm. Ein falscher Name an dich adressiert und du wusstest, dass nicht er es war, den du sahst, sondern nur eine weitere Maske der Pest und Krankheit, dem Geschwür in seinem Kopf, das ihn im Gegensatz zu vielen anderen Menschen tatsächlich und in der Wirklichkeit zerfressen hat. Darum bin ich dein Geschwür hinter dem Spiegelglas.
Halbkind, Halbgott, um einen tanzenden Stern für die Nachwelt zu gebären. So bist du einer der letzten Menschen. Ich, zu narzisstisch im Selbsthass verloren. Du, zu gelangweilt von dir selbst, um dich mit dir zu beschäftigen, richtest du dein Augenmerk auf die Menschen um dich herum, halb Mensch, halb Wolf. Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Leben Wölfe in der Steppe allein? Sind Halbkinder nur Töchter und Söhne von Sonne und Mond? Ich warte hinter dem Spiegel im Wunderland und höre das Kratzen in deinem Inneren. Etwas hat einen Kokon gesponnen und sehnt den Tag der Vereinigung herbei. Ich bin es nicht und doch sind das Es und Ich du. Wir wachsen in dir heran. Hast du uns vermisst? Du glaubst noch immer, du seist ein Geldstück, eine der Münzen auf deinen Augen. Du glaubst, du hättest zwei Seiten, doch jeder Mensch, ob Halbkind, Halbmensch, Halbgott, trägt viele Seiten in sich. Nicht nur zwei, nicht nur drei Instanzen. Sind wir Möbiusschleifen, die nach Ergänzung suchen, die wir ein Leben lang bei uns behalten, ohne dass sie ein Teil von uns sein kann? Ein Teil von dir, ein Teil von mir. Ein Teil vom Nichts der Unendlichkeit. In der Rasse geteilt, halb weiblich, halb männlich, betrachte ich die Frau in dir und möchte gern ein Mann sein. Du bist zu sehr ich, wir sind zu viel von uns, ich bin zu viel in mir selbst. So bin ich fast sie, fast er, weil ich nicht genug geben kann und doch zu viel zu geben habe. Du bist Jill und ich bin Jack und das halbe Blut von Sonne und Mond kocht in meinen Adern.
Name ist Schall und Rauch, doch manchmal heiße ich auch Frank oder Harvey. Dann habe ich lange Hasenohren und spitze Zähne, bin manchmal weiß und manchmal schwarz, trage in seltenen Fällen sogar eine Uhr bei mir. Ich bin dein imaginärer Freund, mit dem du reden kannst, wenn niemand sonst dir zuhört. Ich bin Jack im Versteck, aber auch Jekyll und Hyde, bin das tausendfach Gute und Böse in dir, der Voyeur deiner Kindertage. Du hoffst, dass du mehr wie ich sein kannst, die perfekte Maske des Ichs, das du innerlich, aber nicht nach außen bist.
Du bist nicht wie ich. Aber ich bin halb wie du. Zum Schluss steht nur ein halbes Ende.