Vorlage für den Einzelteil
UnterHalb
Wenn du in den Spiegel siehst, dann erkennst du mich nicht, weil ich es
nicht will. Dann verstecke ich mich im Glas hinter einer namenlosen
Maske und warte. Das Leben ist ein ständiges Warten. Ein Warten auf
Godot? Ein Warten darauf, dass die Tür zum Gerichtssaal geschlossen wird
und man nie hindurchgegangen ist, obgleich jene Tür für einen bestimmt
war? Nur ich sitze hier und schaue dir zu, solange du mich nicht
beachtest. Du erkennst, wer ich bin, wenn ich es will. Dann lasse ich
dich in einer ruhigen Sekunde innehalten und zwinge dich, mir in die
Augen zu schauen. Was siehst du? Siehst du mich? Halb dich, halb nichts.
Während du erwachsen wurdest, bin ich das Kind einer Mutter, die
lediglich eine Frau, allenfalls eine Freundin war, und das Kind vieler
Männer, die nie meine Väter waren. Meine halbe Mutter nannte ich stets
beim Namen, während du ihr noch einen Titel gegeben hast. Halb
verschämt, halb mutig, halb lügend, Halbkind. Doch ähnlich wurdest du
ihr dennoch, auch wenn du stets mehr wie dein Vater sein wolltest. Mehr
wie er, dem Individuum in dir, dem Unbekannten in ihm. Ein falscher Name
an dich adressiert und du wusstest, dass nicht er es war, den du sahst,
sondern nur eine weitere Maske der Pest und Krankheit, dem Geschwür in
seinem Kopf, das ihn im Gegensatz zu vielen anderen Menschen tatsächlich
und in der Wirklichkeit zerfressen hat. Darum bin ich dein Geschwür
hinter dem Spiegelglas.
Halbkind, Halbgott, um einen tanzenden Stern für die Nachwelt zu
gebären. So bist du einer der letzten Menschen. Ich, zu narzisstisch im
Selbsthass verloren. Du, zu gelangweilt von dir selbst, um dich mit dir
zu beschäftigen, richtest du dein Augenmerk auf die Menschen um dich
herum, halb Mensch, halb Wolf. Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf?
Leben Wölfe in der Steppe allein? Sind Halbkinder nur Töchter und Söhne
von Sonne und Mond? Ich warte hinter dem Spiegel im Wunderland und höre
das Kratzen in deinem Inneren. Etwas hat einen Kokon gesponnen und sehnt
den Tag der Vereinigung herbei. Ich bin es nicht und doch sind das Es
und Ich du. Wir wachsen in dir heran. Hast du uns vermisst? Du glaubst
noch immer, du seist ein Geldstück, eine der Münzen auf deinen Augen. Du
glaubst, du hättest zwei Seiten, doch jeder Mensch, ob Halbkind,
Halbmensch, Halbgott, trägt viele Seiten in sich. Nicht nur zwei, nicht
nur drei Instanzen. Sind wir Möbiusschleifen, die nach Ergänzung suchen,
die wir ein Leben lang bei uns behalten, ohne dass sie ein Teil von uns
sein kann? Ein Teil von dir, ein Teil von mir. Ein Teil vom Nichts der
Unendlichkeit. In der Rasse geteilt, halb weiblich, halb männlich,
betrachte ich die Frau in dir und möchte gern ein Mann sein. Du bist zu
sehr ich, wir sind zu viel von uns, ich bin zu viel in mir selbst. So
bin ich fast sie, fast er, weil ich nicht genug geben kann und doch zu
viel zu geben habe. Du bist Jill und ich bin Jack und das halbe Blut von
Sonne und Mond kocht in meinen Adern.
Name ist Schall und Rauch, doch manchmal heiße ich auch Frank oder
Harvey. Dann habe ich lange Hasenohren und spitze Zähne, bin manchmal
weiß und manchmal schwarz, trage in seltenen Fällen sogar eine Uhr bei
mir. Ich bin dein imaginärer Freund, mit dem du reden kannst, wenn
niemand sonst dir zuhört. Ich bin Jack im Versteck, aber auch Jekyll und
Hyde, bin das tausendfach Gute und Böse in dir, der Voyeur deiner
Kindertage. Du hoffst, dass du mehr wie ich sein kannst, die perfekte
Maske des Ichs, das du innerlich, aber nicht nach außen bist.
Du bist nicht wie ich. Aber ich bin halb wie du. Zum Schluss steht nur ein halbes Ende.
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