Sonntag, 1. Mai 2005

Rezitatorenwettstreit 2005

Vorlage für den Einzelteil
Frühling, Sommer, Herz und Kinder


Ihr sitzt auf einem der vielen Stühle im Saal der Aula. Aus den unteren Klassen haben die ersten Rezitatoren des Wettstreites an dieser Schule schon vorgetragen. Die Theatergruppe und der Chor sind ebenfalls mit ihren Auftritten fertig. Nun ist die Pause vorbei und Ruhe kehrt langsam in den Saal ein.
Auf der Erhebung vor den im Saal Sitzenden steht ein Stuhl. Auf ihm sitzt eine Schülerin, klein, kurzen Haars. Sie trägt einen bordeauxfarbenen Rock, ansonsten schwarz. Ihr Gesicht ist betreten gesenkt. Sie ist die Mutter.
Neben ihr liegt eine weitere Schülerin, groß, gekleidet in ein schwarzes Kleid, barfüßig. Ihre Augen sind verschlossen.
„Ich weiß nicht, was passiert ist“, sagt die Mutter und wendet sich damit ernst an die Zuschauer, an euch. „Was soll denn auch passiert sein?“ Ihre Stimme wird fast trotzig. Sie beschimpft euch.
„Sollten Sie mir das nicht sagen?“
Was meint ihr? Seid ihr dafür verantwortlich, der Mutter zu sagen, was passiert ist? Sollte sie das nicht selbst wissen?
„Ich weiß es nicht.“ Das ist ihre Antwort. Sie glaubt, sie weiß es nicht.
„Sie war doch meine Tochter“, ruft sie euch verzweifelt zu. „Wie konnte das geschehen?“ Die Frage verhallt leise im Saal. Verstört nimmt die Mutter die Hände vor das Gesicht. Sie sieht nicht, dass das Kind, welches neben ihr liegt, die Augen öffnet und sich langsam erhebt.
Sitzend schaut es zur Mutter und fragt leise, naiv:
„Mama?“
Die Mutter schreckt hoch, steht vom Stuhl auf. Der Schreck weicht jedoch schnell. Sie schaut ihr Kind überfreundlich an, geht ein paar Schritte auf es zu und spricht:
„Na, was ist mit dir?“
„Mama?“, lächelt das Kind eindringlich zurück.
„Ich weiß“, sagt die Mutter liebevoll und wendet sich halb von ihrem Kind ab, „dass dir nie…“
„Mama?“, fragt das Kind ungeduldig hinein.
„Dass dir nie etwas passiert ist, denn…“, fährt sie unbeirrt fort.
„Mama?“ Es hört der Mutter nicht zu, fällt ihr ins Wort.
„Denn ich bin…“
„Mama?“
„…ja immer bei dir.“
„Mama?“
„Sei still!“
Sie ist wütend, verständlicherweise, oder? Ihr Kind schweigt erschrocken.
Nun ist sie wieder freundlich.
„So ist es brav“ In ihrer Stimme schwingt ein herrischer Ton, der sich nun in lächerliche Hebammensprache wandelt:
„Mami will doch nicht, dass dir etwas zustößt.“ Ihr Blick wird glasig, sie schaut über das Publikum und redet plötzlich in Gedanken versunken:
„Nein… das will sie nicht.“
Das Kind, noch immer sitzend, beobachtet die Mutter, wie sie langsam zu dem Stuhl zurückweicht, sich darauf niedersinken lässt und den Blick euch zuwendet. Sie scheint die Fassung wiederzugewinnen.
„Sie hätten ihr helfen müssen!“ Das ist allerdings eine harte Beschuldigung. Lasst euch das durch den Kopf gehen. Es lag an euch. Warum habt ihr nicht geholfen?
„Ich will wissen, wer der Schuldige ist!“ Das will man immer wissen. Bei wem liegt die Schuld? Wer ist schuldig?
„Wer hat das meiner Tochter angetan?“ Sie spricht langsam, sehr ernst und schaut nun über die Menge. Ihre Augen bleiben an manchem Gesicht hängen, auch an eurem. Die Mutter blickt euch in die Augen. Sie hat euch erkannt. Ihre Miene spiegelt Verzweiflung wider, während sie euch anschaut. Das Kind erhebt sich aus seiner sitzenden Lage und betrachtet kniend seine Mutter.
„Ich habe sie doch geliebt“, sagt sie. Hört ihr das? Es sollte euch wehtun, daran zu denken. „Ich habe meine Tochter geliebt.“
Neugierig fragt ihr Kind erneut:
„Mama?“
„Halt den Mund!“ Mit wutverzerrtem Gesicht ist sie aufgesprungen.
„Mama?“, entgegnet das Kind ängstlich.
Seine Mutter dreht sich um, legt die Hände auf die Ohren und spricht apathisch flüsternd immer wieder die Worte:
„Halt den Mund. Halt den Mund…“
„Mama?“ Das Kind fragt verstörter, flehend, „Mama?“
„Halt den Mund“, redet sie beschwörend zu sich selbst.
„Mama!“, schreit das Kind nun endlich.
Sie hält inne, wendet den Blick verwirrt zum Kind, schweigt. Dieses schaut sie beschuldigend an und ruft dann fordernd:
“Lutscher!“
Erneut kehrt die Mutter zu ihrer Hebammensprache zurück und antwortet:
„Aber nein, mein Kleines. Das ist nicht gut für dich. Das ist schlecht. Ich will doch nicht, dass dir etwas zustößt“, ihre Stimme wird leiser, „Ich muss…“
Sie weicht wieder zurück.
„… doch schließlich auf dich aufpassen.“
Scheinbar erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl fallen und wendet sich wieder dem Publikum zu. Das Kind kniet weiterhin, während es seine Mutter fragend betrachtet. Diese ruft nun aufgebracht in die Menge:
„Sie wollen mir die Schuld in die Schuhe schieben? Ich will wissen, wer meine Tochter umgebracht hat und sie beschuldigen mich!? Ich liebe meine Tochter...“
Von ihr unbemerkt erhebt sich das Kind langsam und steht bald darauf aufrecht. Seine Mutter fährt fort:
„Ich würde ihr das niemals antun. Halten sie den Mund!“ Den letzten Satz schreit sie fast.
„Mutter?“, fragt das Kind erwachsen und ernst.
Erschrocken dreht sie sich zu ihm um, bleibt jedoch sitzen und spricht verwirrt und ängstlich, als sei ihr Kind das Unheil selbst:
„Was willst du hier?“
Freundlich lächelt das Kind und geht auf seine Mutter zu. Noch immer bleibt sie sitzen, als ihre Tochter sie zu umkreisen beginnt und fröhlich singt:
„Sie geht um den Kreis, sodass niemand es weiß. Wer sich umdreht oder lacht…“
Das Kind bleibt stehen und lacht. Die Mutter wendet den Blick ab und schaut vor sich auf den Boden. Gedankenversunken redet sie vor sich hin, man kann nicht sagen, mit wem sie spricht:
„Ich wollte nicht, dass das geschieht. Ich habe doch immer auf sie Acht gegeben. Es war nicht meine Schuld. Ich würde so etwas niemals tun. Ich liebe meine Tochter.“
Für den Zuschauer avanciert das Gerede fast du einem Brabbeln. Das Kind steht neben dem Stuhl und betrachtet seine Mutter, bevor es sich dem Publikum zuwendet und in überzeugtem Ton sagt:
„Meine Mutter liebt mich.“
Apathisch beginnt diese den Satz:
„Ich liebe sie wirklich…“
„…Wirklich“, beginnt das Kind zur selben Zeit, „Sie liebt mich.“
„Ich wollte nicht, dass das geschieht“, sagt euch die auf dem Stuhl Sitzende verzweifelt.
„Sie wollte nie, dass das geschieht“, pflichtet ihr das Kind bei, doch unterdrückte Verachtung mischt sich in seine Stimme, „Sie hat immer auf mich Acht gegeben. Es war nicht ihre Schuld.“
„Es war nicht meine Schuld“, sagt die Mutter leise.
„Sie würde so etwas niemals tun“, erklärt euch ihre Tochter weiter, „Sie würde mich niemals schlagen, weder mit dem Kochlöffel noch mit dem Kleiderbügel.“
„Das würde ich niemals tun“, beschwört die Mutter lauter.
„Sie würde mich nicht auf dem Balkon schlafen lassen, damit ich sie nicht mehr störte.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie würde nicht meine Hände auf die Herdplatte drücken, wenn sie wütend ist.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie würde mir nicht die Hände um den Hals legen und zudrücken, damit sie endlich ihre Ruhe vor mir hätte.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie…“, das Kind zögert und fährt nur sehr langsam fort, „…hätte mich niemals umgebracht.“
Die Mutter öffnet den Mund, als wolle sie etwas sagen, schaut über das Publikum und schweigt. Betreten schaut sie zu Boden und senkt immer weiter den Blick.
Das Kind läuft hinter dem Stuhl der Mutter entlang auf die andere Seite, scheinbar tief in Gedanken versunken. Schließlich bleibt es stehen, schenkt den Zuschauern ein Lächeln und sagt:
„Das hätte sie niemals getan.“

Samstag, 22. Januar 2005

Rezitatorenwettstreit 2004

Dies ist ein Text von einer deutschen Jungautorin von Kurzprosa und Lyrik. 'Danach' habe ich letztes Jahr vorgetragen zum Thema "Si(e)/nn/e(h)r/l/ich".

danach
danach kann ich dich kaum zurücklassen vielleicht machst du es mir auch absichtlich schwer ziehst erst das innerste aus mir heraus es rollt sich leicht auf kordelrollen wars der ariadnefaden denk mal nach ich glaub dann doch nicht rote fäden führen meist ins freie wenigstens zurück zum thema wo stehn wir nun du fühlst dich hier doch selbst nicht wohl mit mir auf deinen kordelrollen buntgewickelt wenigstens die knoten solltest du vermeiden wär ich schneidgewandter um das blut aus deinen adern rauszulocken zwirngeschnitten weht der finger trägt das zarte deines seins zu mir es weint sich aus und kostet neugierigst auch meine tränen schmecken fast genauso nicht vielleicht ein wenig bittrer doch wo waren wir jetzt zuletzt stehst wartend da lässt mich nicht los gib sie zurück die aufgerollten eingeweide was tu ich sonst ganz ohne sie wie eine nabelschnur reißt der herzgezielte faden auch ohne schere kannst den rest behalten bis er fault ich weiß es war nicht so gemeint gewollt noch absichtlich geplant ist nur ein abschied wie die andern auch nur eine letzte frage ich wüsste es gern was bleibt danach von mir noch übrig
Angela ....

Samstag, 1. Januar 2005

Neujahr

Vorlage für die Einzelteile
Dinner for One und
Anders mit offenen Armen

Und wieder ist ein Jahr vergangen, die Pforten zu neuen Vorsätzen sind geöffnet, alte Meinungen können abgestreift werden… kurz: ein neues Leben beginnt.
Wie haben Sie Ihren Jahreswechsel vollzogen? Doch hoffentlich auf angenehme Art und Weise, denn mich persönlich stimmt diese Wende immer traurig. Manche Leute sitzen jedes Jahr im Wohnzimmer und sehen sich Dinner for one an, wobei fast, ich betone fast, allen Zuschauern die allzu tragische Gegebenheit dahinter entgeht. Man trinkt, man plaudert mit Bekannten oder bleibt allein. Nun gut… man besäuft sich, streitet mit Bekannten und bleibt allein. Doch möchte ich nicht pedantisch erscheinen. Letztendlich sind das auch nur Bagatellen im Anbetracht der Wucht des alten Jahres, in diesem Fall des Jahres 2004, das sich unaufhaltsam in den Abgrund der Vergessenheit stürzt.
Meist steht zu dieser Stunde der Weihnachtsbaum noch im Wohnzimmer, direkt neben dem Fernseher, auf dessen Bildschirm eine der unzähligen Silvestersendungen läuft. Der geschmückte Baum sieht jetzt schon ziemlich lächerlich aus, da er entweder bereits nadelt oder, falls er unecht ist, sowieso nur dümmlich krumm im Wege steht. Sollte man keinen Baum besitzen, macht das die ganze Situation auch nicht weniger trostlos.
So bald sich alles dem Ende entgegen neigt, steht man gemeinschaftlich im Wohnzimmer, jeder ein Glas von dem billigen Sekt in der Hand, da man nicht das Geld hatte, sich Champagner zu leisten, und zählt den Countdown in der Flimmerkiste herunter.
… Drei … Zwei … Eins … Null!
Alles jubelt. Jeder tut so, als würde er sich freuen. Man stößt extra lang mit den Sektgläsern an, um es noch ein wenig hinauszuzögern, sich das Gesöff in den Rachen gießen zu müssen. Viele nutzen dann die Methode, auf Freundschaft, wie es im Volksmund heißt, zu trinken, damit es hoffentlich nicht auffällt, dass man nur kurz am Glas nippt. Es sei denn, man war so klug, sich vorher zu betrinken, dann schmeckt das Zeug nur halb so schlimm.
Schließlich gehen alle nach draußen, man schaut dem Feuerwerk zu oder beteiligt sich sogar aktiv daran. Jeder Mensch hat dieses bestimmte Glitzern in den Augen. Sie wissen schon, was ich meine: die Tränen in den Augen, da man den Sekt gar nicht so widerlich in Erinnerung hatte. War das im letzten Jahr auch schon so gewesen?
Nun steht man auf der Straße, blickt sich um und erkennt viele neue und alte Gesichter. Dort ist der Nachbar, das ist der Enkel, den vorbeilaufenden Mann kennt man nicht … und plötzlich denkt man sich: Eigentlich … ja, eigentlich kennen wir uns alle gar nicht, diese Leute sind wie Fremde. Jeder einzelne.
Im nächsten Moment geht man noch einen Schritt weiter. Das Jahr ist vorbei. Wie war es überhaupt? Hat man irgendetwas erreicht? Sie wissen sicher, wovon ich spreche.
Wussten Sie, dass sich zu Neujahr unglaublich viele Selbstmorde ereignen? Es ist erstaunlich … es gibt tatsächlich noch kluge Menschen, denen eines klar ist: das letzte Jahr war beschissen, das nächste wird auch nicht besser sein. Auf ein Neues? Gute Frage…
Dazu kommt die Tatsache, dass man an jeder Ecke einer Uhr begegnet. Alles ist vergänglich - muss man daran auch noch jede Sekunde erinnert werden?
Also dachte ich mir in diesem Jahr, man könnte auf die Familie auch verzichten. Es hat hervorragend funktioniert, wie sich schnell für mich herausstellte.
Meine Partnerin und ich entschieden uns, zu meinen Freunden zu gehen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Freunde sind nicht nur Bekannte. So fremd man ihnen ist, so nah steht man ihnen auch. Blut ist dicker als Wasser? Das ließe sich überdenken.
Natürlich ließen meine Partnerin und ich nicht davon ab, schon im Voraus ein wenig intus zu haben und nicht allzu früh auf der Feier zu erscheinen: Wir beide kommen lieber stilvoll zu spät.
Doch endlich dort angekommen, nur ein wenig angetrunken, starrten uns unbekannte Gesichter entgegen, ein paar Typen, die es schick fanden, sich mit einem Bier in der Hand auf der Treppe zu sammeln. Wortlos gingen wir an ihnen vorüber und wurden von der Gastgeberin mit den Worten begrüßt: „Gott, ich bin schon so betrunken. Und ich habe mit R. rumgeknutscht.“
Zur näheren Erläuterung: R. ist eine Freundin von meiner Seite, die auf Oldies steht, die dementsprechenden Klamotten trägt und ansonsten Tiere und Pflanzen mag. Desweiteren sagte sie mir einst, sie stehe nicht auf Titten … so viel dazu.
W., die Gastgeberin, ließ es sich nicht nehmen, das Gesagte noch in der Tür zu demonstrierten. Das war also unser Einstieg.
Durch die Wohnung dröhnte Rammstein und an einigen Stellen saßen suspekte jugendliche Männer, die wirkten, als seien sie von der Straße aufgelesen worden. Wir betraten das Zimmer der Gastgeberin nicht ohne Schwierigkeiten, da einer der Jugendlichen direkt vor der Tür lag. Sein Mund war von etwas Rotem verschmiert, als er sich schwerfällig erhob und mit einem anderen Kerl aus dem Zimmer verschwand. Keine Sorge, das dient nicht zu Ihrer Beunruhigung. Mir schien es nur eben erwähnenswert.
W. lag mittlerweile auf dem Bett und war damit beschäftigt, einem Mädchen die Zunge in den Hals zu schieben. Wie? R.? Nein, das war U., die beste Freundin von W. Sie sind halt sehr, sehr gut miteinander befreundet … wie auch immer.
Wir sahen uns um.
Das einzige Licht in dem vollständig weißen Zimmer ging von Kerzen aus, eine Menge Fotos von Bands und Leadsängern hingen in schwarzweiß an den Wänden und Decken, Poster von den Murderdolls, Bilder von Luis Royo, ein Seil hing von der Decke. Falls es Sie interessiert: Die Frage, ob sie schon einmal versucht hätte, sich damit zu erhängen, verneinte W.
Wir setzten uns auf das Bett, sodass W. und U. ihr Spiel bald auf den Schoß meiner Partnerin verlegten. Nun gibt es erst einmal nur Belanglosigkeiten zu erzählen. An dem Bett waren übrigens auch Seile befestigt, an dem man bequem jemanden festbinden konnte. Meine Partnerin und ich … aber lassen wir das.
Interessant wurde es erst, als W. nach dem stumpfen Messer auf ihrer Kommode griff und es über ihren Arm zog. Die Schnitte waren normal, bluteten, sodass man damit auf ihrer weißen Haut malen konnte, was sich meine Partnerin und ich nicht entgehen ließen. Jedoch konnte man mit solch einem stumpfen Messer sowieso nicht mehr erwarten. Also gab ich ihr das meinige, welches sich zufälligerweise in meiner Tasche befand. Ein wirkungsvolleres Resultat stellte sich heraus. Der Abend schien nett zu werden, noch bevor es zehn Uhr wurde. Ich musste feststellen, dass sich das binnen kurzer Zeit verstärkt bestätigen würde.
W. kam auf die geniale Idee, gleich ihre Rasierklinge zu benutzen, damit es mehr brächte. Das hat es auch…
Meine Partnerin war im Nachhinein der Meinung, dass die Wunde, die sich unsere Gastgeberin am Oberarm zufügte, nicht breiter offen stand als ein bis zwei Zentimeter. Nun ja, für mich sah es bereits wie drei aus, aber ich denke, diese Täuschung stellte sich bei mir nur durch den Alkohol ein. Das Blut suppte noch nicht einmal heraus, nur das Fleisch wölbte sich nach oben, sodass die weisen Fettzellen die Wunde gänzlich ausfüllten. Lange würde der Körper nicht brauchen, bis er mitbekam, was passiert war. Jedenfalls sahen meine Partnerin und ich uns fragend an, während die Verletzte beteuerte, es sei nicht so schlimm, nur die Haut sei angekratzt. Ihre Stimme klang dabei sehr hysterisch. Dann wollte sie das Blut ablecken, woran ich sie natürlich hindert. Okay, so konnte die Sache nicht bleiben. Doch W. entschloss sich schon vor uns aufzustehen und ins Bad zu gehen, nicht ohne Blut auf der Kommode, dem Boden, dem Türrahmen und dem Albinohasen zu verteilen.
R., die als einzige andere Anwesende neben uns saß, sagte kurz, dass das Ganze widerlich sei, sie es aber nicht weiter interessierte. Damit war das auch erledigt und meine Partnerin und ich konnten der Verletzten ins Bad folgen.
Im Bad hatte W. bereits das Wasser aufgedreht, um ihren Arm darunter zu halten. Ich brauche die Gründe doch sicher nicht zu erklären, weshalb wir sie daran unbedingt hindern mussten: Die Wundverschließung würde nicht einsetzen, da Blut im Kontakt mit Wasser nicht gerinnt. Wollte W. sich umbringen, wäre das eine gute Methode gewesen.
Im nächsten Augenblick war sie wieder aus dem Bad in ihr Zimmer gerannt und fing an eine Mullbinde um ihren Arm zu wickeln. Ich nahm ihr die Arbeit ab, da sie sich nicht davon abbringen ließ. Eigentlich hätte man warten müssen. Vielleicht hätten meine Partnerin und ich es sogar in Erwägung gezogen, die Wunde mit einem Tacker zu schließen - das wäre am sichersten gewesen. Dann wäre ein Druckverband darüber gekommen und letztendlich die Mullbinde. Wir fingen also mit der Mullbinde an.
Den Druckverband holte meine Partnerin aus dem Verbandskasten im Zimmer, der übrigens nicht ohne Grund dort ist, und das Tackern ließen wir ganz. Nun war der Arm notdürftig abgeschnürt, auch wenn sich der Verband vom Blut bereits rot färbte.
„Irgendwie ist es lustig“, sagte meine Partnerin zu mir, „dass ich Blut an den Händen habe, das weder von dir noch von mir stammt.“
Als die anderen Anwesenden im Haus, darunter W.s Bruder, dies bemerkten, ging das Gehetze wirklich los. Irgendwelche Besserwisser meinten, dass eine Hauptschlagader getroffen worden sein könnte und dass W. ins Krankenhaus müsse. Diese wollte das allerdings nicht. Nichts lag ihr ferner. Verständlich.
Man schrie sie an, sie schrie zurück, einige Freundinnen von ihr weinten und meine Partnerin und ich tauschten amüsierte Blicke. Dann wurde sie ins Bad gezerrt und drei Männer, darunter ihr Bruder und der Bruder ihrer Freundin, redeten auf sie ein, um die Moralapostel zu spielen. Sie wusste sich nicht mehr zu helfen, kauerte sich zusammen und hörte irgendwann mit der Gegenwehr auf, um sich berieseln zu lassen, ohne Erfolg für die Apostel.
Während die weinenden Freundinnen in W.s Zimmer saßen und die Jungs sich mit W. im Bad eingeschlossen hatten, standen meine Partnerin und ich im Flur zwischen beiden Zimmern. Durch die Zimmer klang mittlerweile die Stimme von Ville Valo. Er sang Gone with the Sin, während wir an der Wand lehnten und belustigte Blicke austauschten. Lachen musste meinereiner jedoch erst, als ich auf das Schild an W.s Tür sah. Ein Bild hing dort von Samsas Traum, unter dem groß die Worte standen:
„Heute Nacht sterben wir!“
Wir? Nicht ganz…
Zeitsprung: Nach dem vielen Gerede, Geschrei und Blut saß man also wieder in W.s Zimmer. Noch immer dröhnte die Musik von HIM durch den Raum. Sehr passend.
Der Gastgeberin ging es so weit wieder gut und ich schloss kurzerhand die Wette ab, dass sie bis zum Jahreswechsel überleben würde. Das war auch der Fall. Sie überlebte.
Jedenfalls konnte sie mühelos und nur wenig schwankend von ihrem Bett aufstehen, als ich sie kurz nach Mitternacht mit einigen anderen in die Küche schleifte. Gut, wir hatten den Wechsel verpasst, aber was machte das schon? Alle standen halb betrunken in der Küche, wir hoben die Gläser und wünschten ohne Countdown, da das ein wenig zu spät gekommen wäre, ein schönes neues Jahr. Jeder goss sich das Billiggetränk in den Rachen und seltsamerweise schmeckte es gar nicht so schlecht … zumindest für mich. Der Alkohol in meinem Blut tat fleißig seine Arbeit.
Was gibt es sonst noch zu erzählen? Das Feuerwerk war schön von drinnen anzuhören, als wir uns kurz entschlossen zu fünft in W.s Bett legten, welches eigentlich selbst für zwei schon zu klein war. Die Handschellen in meinem Rucksack fanden in dieser Nacht leider keine Verwendung mehr, aber es war trotzdem nett.
Am nächsten Morgen war W.s Arm bereits ein wenig blau und eiskalt geworden, aber es würde schon gehen, wie sie selbst versicherte. Das erfuhr ich jedoch nur per Telefon, da meine Partnerin und ich uns bereits vorher dazu entschlossen hatten, besser zu Hause zu übernachten. Was mittlerweile mit ihrem Arm ist, weiß ich nicht. Ihr Bruder wird sie verpfiffen haben und dann muss W. wahrscheinlich, wenn sie sich nicht zu wehren weiß, wieder ins Sanatorium. Das geht mich jetzt allerdings nichts mehr an. Ich hatte mein schönes Silvester und nun bereite ich mich auf die Wucht des Jahres 2005 vor, mit einem Start, den ich mir besser kaum hätte vorstellen können.
Auf ein Neues? Aber immer doch…