Vorlage für die Einzelteile
Dinner for One und
Anders mit offenen Armen
Und wieder ist ein Jahr vergangen, die Pforten zu neuen Vorsätzen sind
geöffnet, alte Meinungen können abgestreift werden… kurz: ein neues
Leben beginnt.
Wie haben Sie Ihren Jahreswechsel vollzogen? Doch hoffentlich auf
angenehme Art und Weise, denn mich persönlich stimmt diese Wende immer
traurig. Manche Leute sitzen jedes Jahr im Wohnzimmer und sehen sich Dinner for one an, wobei fast, ich betone fast, allen Zuschauern
die allzu tragische Gegebenheit dahinter entgeht. Man trinkt, man
plaudert mit Bekannten oder bleibt allein. Nun gut… man besäuft sich,
streitet mit Bekannten und bleibt allein. Doch möchte ich nicht
pedantisch erscheinen. Letztendlich sind das auch nur Bagatellen im
Anbetracht der Wucht des alten Jahres, in diesem Fall des Jahres 2004,
das sich unaufhaltsam in den Abgrund der Vergessenheit stürzt.
Meist steht zu dieser Stunde der Weihnachtsbaum noch im Wohnzimmer,
direkt neben dem Fernseher, auf dessen Bildschirm eine der unzähligen
Silvestersendungen läuft. Der geschmückte Baum sieht jetzt schon
ziemlich lächerlich aus, da er entweder bereits nadelt oder, falls er
unecht ist, sowieso nur dümmlich krumm im Wege steht. Sollte man keinen
Baum besitzen, macht das die ganze Situation auch nicht weniger
trostlos.
So bald sich alles dem Ende entgegen neigt, steht man gemeinschaftlich
im Wohnzimmer, jeder ein Glas von dem billigen Sekt in der Hand, da man
nicht das Geld hatte, sich Champagner zu leisten, und zählt den
Countdown in der Flimmerkiste herunter.
… Drei … Zwei … Eins … Null!
Alles jubelt. Jeder tut so, als würde er sich freuen. Man stößt extra
lang mit den Sektgläsern an, um es noch ein wenig hinauszuzögern, sich
das Gesöff in den Rachen gießen zu müssen. Viele nutzen dann die
Methode, auf Freundschaft, wie es im Volksmund heißt, zu trinken, damit
es hoffentlich nicht auffällt, dass man nur kurz am Glas nippt. Es sei
denn, man war so klug, sich vorher zu betrinken, dann schmeckt das Zeug
nur halb so schlimm.
Schließlich gehen alle nach draußen, man schaut dem Feuerwerk zu oder
beteiligt sich sogar aktiv daran. Jeder Mensch hat dieses bestimmte
Glitzern in den Augen. Sie wissen schon, was ich meine: die Tränen in
den Augen, da man den Sekt gar nicht so widerlich in Erinnerung hatte.
War das im letzten Jahr auch schon so gewesen?
Nun steht man auf der Straße, blickt sich um und erkennt viele neue und
alte Gesichter. Dort ist der Nachbar, das ist der Enkel, den
vorbeilaufenden Mann kennt man nicht … und plötzlich denkt man sich:
Eigentlich … ja, eigentlich kennen wir uns alle gar nicht, diese Leute
sind wie Fremde. Jeder einzelne.
Im nächsten Moment geht man noch einen Schritt weiter. Das Jahr ist
vorbei. Wie war es überhaupt? Hat man irgendetwas erreicht? Sie wissen
sicher, wovon ich spreche.
Wussten Sie, dass sich zu Neujahr unglaublich viele Selbstmorde
ereignen? Es ist erstaunlich … es gibt tatsächlich noch kluge Menschen,
denen eines klar ist: das letzte Jahr war beschissen, das nächste wird
auch nicht besser sein. Auf ein Neues? Gute Frage…
Dazu kommt die Tatsache, dass man an jeder Ecke einer Uhr begegnet.
Alles ist vergänglich - muss man daran auch noch jede Sekunde erinnert
werden?
Also dachte ich mir in diesem Jahr, man könnte auf die Familie auch
verzichten. Es hat hervorragend funktioniert, wie sich schnell für mich
herausstellte.
Meine Partnerin und ich entschieden uns, zu meinen Freunden zu gehen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Freunde sind nicht nur Bekannte. So
fremd man ihnen ist, so nah steht man ihnen auch. Blut ist dicker als
Wasser? Das ließe sich überdenken.
Natürlich ließen meine Partnerin und ich nicht davon ab, schon im Voraus
ein wenig intus zu haben und nicht allzu früh auf der Feier zu
erscheinen: Wir beide kommen lieber stilvoll zu spät.
Doch endlich dort angekommen, nur ein wenig angetrunken, starrten uns
unbekannte Gesichter entgegen, ein paar Typen, die es schick fanden,
sich mit einem Bier in der Hand auf der Treppe zu sammeln. Wortlos
gingen wir an ihnen vorüber und wurden von der Gastgeberin mit den
Worten begrüßt: „Gott, ich bin schon so betrunken. Und ich habe mit R. rumgeknutscht.“
Zur näheren Erläuterung: R. ist eine Freundin von meiner Seite, die
auf Oldies steht, die dementsprechenden Klamotten trägt und ansonsten
Tiere und Pflanzen mag. Desweiteren sagte sie mir einst, sie stehe nicht
auf Titten … so viel dazu.
W., die Gastgeberin, ließ es sich nicht nehmen, das Gesagte noch in der Tür zu demonstrierten. Das war also unser Einstieg.
Durch die Wohnung dröhnte Rammstein und an einigen Stellen saßen
suspekte jugendliche Männer, die wirkten, als seien sie von der Straße
aufgelesen worden. Wir betraten das Zimmer der Gastgeberin nicht ohne
Schwierigkeiten, da einer der Jugendlichen direkt vor der Tür lag. Sein
Mund war von etwas Rotem verschmiert, als er sich schwerfällig erhob und
mit einem anderen Kerl aus dem Zimmer verschwand. Keine Sorge, das
dient nicht zu Ihrer Beunruhigung. Mir schien es nur eben erwähnenswert.
W. lag mittlerweile auf dem Bett und war damit beschäftigt, einem
Mädchen die Zunge in den Hals zu schieben. Wie? R.? Nein, das war U.,
die beste Freundin von W. Sie sind halt sehr, sehr gut miteinander
befreundet … wie auch immer.
Wir sahen uns um.
Das einzige Licht in dem vollständig weißen Zimmer ging von Kerzen aus,
eine Menge Fotos von Bands und Leadsängern hingen in schwarzweiß an den
Wänden und Decken, Poster von den Murderdolls, Bilder von Luis Royo, ein
Seil hing von der Decke. Falls es Sie interessiert: Die Frage, ob sie
schon einmal versucht hätte, sich damit zu erhängen, verneinte W.
Wir setzten uns auf das Bett, sodass W. und U. ihr Spiel bald auf
den Schoß meiner Partnerin verlegten. Nun gibt es erst einmal nur
Belanglosigkeiten zu erzählen. An dem Bett waren übrigens auch Seile
befestigt, an dem man bequem jemanden festbinden konnte. Meine Partnerin
und ich … aber lassen wir das.
Interessant wurde es erst, als W. nach dem stumpfen Messer auf ihrer
Kommode griff und es über ihren Arm zog. Die Schnitte waren normal,
bluteten, sodass man damit auf ihrer weißen Haut malen konnte, was sich
meine Partnerin und ich nicht entgehen ließen. Jedoch konnte man mit
solch einem stumpfen Messer sowieso nicht mehr erwarten. Also gab ich
ihr das meinige, welches sich zufälligerweise in meiner Tasche befand.
Ein wirkungsvolleres Resultat stellte sich heraus. Der Abend schien nett
zu werden, noch bevor es zehn Uhr wurde. Ich musste feststellen, dass
sich das binnen kurzer Zeit verstärkt bestätigen würde.
W. kam auf die geniale Idee, gleich ihre Rasierklinge zu benutzen, damit es mehr brächte. Das hat es auch…
Meine Partnerin war im Nachhinein der Meinung, dass die Wunde, die sich
unsere Gastgeberin am Oberarm zufügte, nicht breiter offen stand als ein
bis zwei Zentimeter. Nun ja, für mich sah es bereits wie drei aus, aber
ich denke, diese Täuschung stellte sich bei mir nur durch den Alkohol
ein. Das Blut suppte noch nicht einmal heraus, nur das Fleisch wölbte
sich nach oben, sodass die weisen Fettzellen die Wunde gänzlich
ausfüllten. Lange würde der Körper nicht brauchen, bis er mitbekam, was
passiert war. Jedenfalls sahen meine Partnerin und ich uns fragend an,
während die Verletzte beteuerte, es sei nicht so schlimm, nur die Haut
sei angekratzt. Ihre Stimme klang dabei sehr hysterisch. Dann wollte sie
das Blut ablecken, woran ich sie natürlich hindert. Okay, so konnte die
Sache nicht bleiben. Doch W. entschloss sich schon vor uns
aufzustehen und ins Bad zu gehen, nicht ohne Blut auf der Kommode, dem
Boden, dem Türrahmen und dem Albinohasen zu verteilen.
R., die als einzige andere Anwesende neben uns saß, sagte kurz, dass
das Ganze widerlich sei, sie es aber nicht weiter interessierte. Damit
war das auch erledigt und meine Partnerin und ich konnten der Verletzten
ins Bad folgen.
Im Bad hatte W. bereits das Wasser aufgedreht, um ihren Arm darunter
zu halten. Ich brauche die Gründe doch sicher nicht zu erklären, weshalb
wir sie daran unbedingt hindern mussten: Die Wundverschließung würde
nicht einsetzen, da Blut im Kontakt mit Wasser nicht gerinnt. Wollte
W. sich umbringen, wäre das eine gute Methode gewesen.
Im nächsten Augenblick war sie wieder aus dem Bad in ihr Zimmer gerannt
und fing an eine Mullbinde um ihren Arm zu wickeln. Ich nahm ihr die
Arbeit ab, da sie sich nicht davon abbringen ließ. Eigentlich hätte man
warten müssen. Vielleicht hätten meine Partnerin und ich es sogar in
Erwägung gezogen, die Wunde mit einem Tacker zu schließen - das wäre am
sichersten gewesen. Dann wäre ein Druckverband darüber gekommen und
letztendlich die Mullbinde. Wir fingen also mit der Mullbinde an.
Den Druckverband holte meine Partnerin aus dem Verbandskasten im Zimmer,
der übrigens nicht ohne Grund dort ist, und das Tackern ließen wir
ganz. Nun war der Arm notdürftig abgeschnürt, auch wenn sich der Verband
vom Blut bereits rot färbte.
„Irgendwie ist es lustig“, sagte meine Partnerin zu mir, „dass ich Blut
an den Händen habe, das weder von dir noch von mir stammt.“
Als die anderen Anwesenden im Haus, darunter W.s Bruder, dies
bemerkten, ging das Gehetze wirklich los. Irgendwelche Besserwisser
meinten, dass eine Hauptschlagader getroffen worden sein könnte und dass
W. ins Krankenhaus müsse. Diese wollte das allerdings nicht. Nichts
lag ihr ferner. Verständlich.
Man schrie sie an, sie schrie zurück, einige Freundinnen von ihr weinten
und meine Partnerin und ich tauschten amüsierte Blicke. Dann wurde sie
ins Bad gezerrt und drei Männer, darunter ihr Bruder und der Bruder
ihrer Freundin, redeten auf sie ein, um die Moralapostel zu spielen. Sie
wusste sich nicht mehr zu helfen, kauerte sich zusammen und hörte
irgendwann mit der Gegenwehr auf, um sich berieseln zu lassen, ohne
Erfolg für die Apostel.
Während die weinenden Freundinnen in W.s Zimmer saßen und die Jungs
sich mit W. im Bad eingeschlossen hatten, standen meine Partnerin und
ich im Flur zwischen beiden Zimmern. Durch die Zimmer klang
mittlerweile die Stimme von Ville Valo. Er sang Gone with the Sin,
während wir an der Wand lehnten und belustigte Blicke austauschten.
Lachen musste meinereiner jedoch erst, als ich auf das Schild an W.s
Tür sah. Ein Bild hing dort von Samsas Traum, unter dem groß die Worte
standen:
„Heute Nacht sterben wir!“
Wir? Nicht ganz…
Zeitsprung: Nach dem vielen Gerede, Geschrei und Blut saß man also
wieder in W.s Zimmer. Noch immer dröhnte die Musik von HIM durch den
Raum. Sehr passend.
Der Gastgeberin ging es so weit wieder gut und ich schloss kurzerhand die
Wette ab, dass sie bis zum Jahreswechsel überleben würde. Das war auch
der Fall. Sie überlebte.
Jedenfalls konnte sie mühelos und nur wenig schwankend von ihrem Bett
aufstehen, als ich sie kurz nach Mitternacht mit einigen anderen in die
Küche schleifte. Gut, wir hatten den Wechsel verpasst, aber was machte
das schon? Alle standen halb betrunken in der Küche, wir hoben die
Gläser und wünschten ohne Countdown, da das ein wenig zu spät gekommen
wäre, ein schönes neues Jahr. Jeder goss sich das Billiggetränk in den
Rachen und seltsamerweise schmeckte es gar nicht so schlecht …
zumindest für mich. Der Alkohol in meinem Blut tat fleißig seine Arbeit.
Was gibt es sonst noch zu erzählen? Das Feuerwerk war schön von drinnen
anzuhören, als wir uns kurz entschlossen zu fünft in W.s Bett legten,
welches eigentlich selbst für zwei schon zu klein war. Die Handschellen
in meinem Rucksack fanden in dieser Nacht leider keine Verwendung mehr,
aber es war trotzdem nett.
Am nächsten Morgen war W.s Arm bereits ein wenig blau und eiskalt
geworden, aber es würde schon gehen, wie sie selbst versicherte. Das erfuhr ich
jedoch nur per Telefon, da meine Partnerin und ich uns bereits vorher
dazu entschlossen hatten, besser zu Hause zu übernachten. Was
mittlerweile mit ihrem Arm ist, weiß ich nicht. Ihr Bruder wird sie
verpfiffen haben und dann muss W. wahrscheinlich, wenn sie sich nicht
zu wehren weiß, wieder ins Sanatorium. Das geht mich jetzt allerdings
nichts mehr an. Ich hatte mein schönes Silvester und nun bereite ich
mich auf die Wucht des Jahres 2005 vor, mit einem Start, den ich mir
besser kaum hätte vorstellen können.
Auf ein Neues? Aber immer doch…
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