Mittwoch, 28. Oktober 2009

Passierschein A 38

Autobahn von Bochum nach Dresden

"Entschuldigung, aber Sie können sich nicht exmatrikulieren, wenn Sie noch Leistungsnachweise erhalten wollen. Sie sind dann nicht mehr in unserem System erfasst."
"Aber die Dozenten haben doch noch Monate Zeit, um die Nachweise herauszugeben. Ohne Exmatrikulation kann ich mich in der neuen Uni nicht immatrikulieren."
"Da müssen Sie mal bei denen nachfragen."
Als ob ich das nicht schon mehrmals getan hätte, dachte ich genervt, wobei mir voller Unmut der nächste Tag einfiel. Dann hätte ich die Chance, persönlich zu der neuen Universität in Dresden zu gehen. Gleichzeitig läge Bochum dann allerdings längst hinter mir. Immer mehr stellte sich mir die Frage, wie das funktionieren sollte. Wie hätte ich es auch innerhalb eines knappen Monats schaffen sollen, alle meine Hausarbeiten zu schreiben, obwohl ich zu dieser Zeit Stunden brauchte, um hinter meinen Modulbescheinigungen herzurennen, obwohl einige Dozenten spurlos das Land verlassen zu haben schienen, obwohl ich mit dem bevorstehenden Umzug genug zu tun hatte, später ohne Internetzugang sein würde und ohne die Möglichkeit, Bibliotheken zu besuchen? Ein knapper Monat unter diesen Umständen. Eigentlich hätte ich drei Monate Zeit gehabt. Doch jedes vorige Wochenende war dafür draufgegangen, unzählige Bücher, DVDs und CDs einzupacken, die von unseren Verwandten die lange Strecke vom Sauerland bis nach Merseburg gebracht wurden, 350 km weit.
Meine Freundin und ich hatten mit Sicherheit nicht die Idee, das alles ohne Umzugsunternehmen zu schaffen. Aber der Vater meiner Freundin schien zuversichtlich und meinte, er hätte Beziehungen, um an einen Transporter heranzukommen, der schon reichen würde, damit wir uns nicht für zwei Tage ein teures Unternehmen leisten mussten. Damit begann die Odyssee.
Auf den ersten Blick sah es in der Wohnung so aus, als seien die meisten Dinge schon zusammengeräumt. Wir waren davon ausgegangen, dass die Bücher den größten Stress bedeuten würden, belaufend ungefähr auf 3000 Stück. Es war Donnerstagmorgen. Meine Freundin musste noch zur Arbeit und ich bemühte mich, Kiste um Kiste mit unseren Habseligkeiten zu füllen. In weiser Voraussicht, die sich später als nutzlos herausstellen sollte, hatte ich bereits eine Tasche mit allen wichtigen Dingen gepackt, die ich in den kommenden Tagen der Heimatlosigkeit benötigen würde. Aus diesem Grund hatten wir eine ganze Ladung Wäsche gewaschen, die dummerweise noch immer nicht trocken war. Beim Einräumen war viel Müll angefallen, da wir in den letzten Wochen Zeitungen und Tüten gesammelt hatten, um die Bücher und den ganzen Rest sicher zu verstauen. Noch dazu war ich überrascht, wie viele Glasflaschen sich plötzlich angesammelt hatten. Leere Alkoholflaschen von den letzten Gelagen. Aber irritierenderweise auch ein kompletter Bierkasten (natürlich leer), den der Freund meiner Mutter, Wolfgang, im Keller "vergessen" hatte. Direkt neben einer Werkzeugtasche von ihm, die er jedes Mal aus Faulheit hatte stehen lassen, wenn er nach einem Besuch wieder abfuhr, bei der er uns jedoch stets vorhielt, dass sie sich noch immer in unserem Besitz befinden würde. Da meine Freundin jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fuhr, musste ich das alles zu Fuß erledigen. Dazu muss gesagt werden, dass unser Haus auf einem Berg lag. Im Sauerland gibt es bekanntermaßen viele Berge. Dagegen war unsere Erhebung sicher nur ein Hügel. Ein solcher Hügel kann sich allerdings erstaunlich schnell in den Kilimandscharo verwandeln, wenn man ihn ein paar Mal runter und wieder hoch gelaufen ist, während man mit mehreren Glasflaschen, wahlweise einem Bierkasten beladen ist, um zum Glascontainer und zur Leergutannahme des Einkaufszentrums zu gelangen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diesen Weg gehen musste, bis alles weggeschafft war. Zur weiteren Information, wir wohnten im dritten Stock, selbstverständlich ohne Aufzug.
Danach machte ich mich so schnell wie möglich daran, die Bettkästen unserer Polsterliegen auszuräumen. Gegen Mittag sollte der Vater meiner Freundin mit dem Transporter kommen. Da wir sowieso neue Liegen kaufen wollten, mussten die alten erst einmal weggebracht werden. Ich hatte in den Tagen zuvor mit der Caritas telefoniert. Die wollten unsere Betten allerdings nicht haben, wie erwartet. Sie hätten angeblich keine Lagerkapazitäten für solcherlei Möbelstücke. Ich erinnerte mich daran, dass wir einem solchen Umstand zwei Jahre zuvor unsere Küche verdankten. Eine komplette Einbauküche von verstorbenen Verwandten meinerseits, die von der Caritas nicht angenommen wurde, da sie deren Zustand nicht den hilfsbedürftigen Armen zumuten könnten. Für meine Freundin und mich war sie komischerweise noch gut genug, obwohl wir uns nicht als "hilfsbedürftig" bezeichnen würden. Wenn man sein Geld vom Staat bekommt, hat man womöglich andere, das heißt höhere Ansprüche. Glücklicherweise hatte ich kurz vor dem Umzug von der Neuen Arbeit in Arnsberg gehört. Die hatten zwar keine Zeit, um die Liegen abzuholen, versicherten uns allerdings, dass sie diese auf jeden Fall annehmen würden. Ich bangte noch immer, während ich in aller Eile die Wäsche abnahm, gerade rechtzeitig, als der Vater meiner Freundin bereits klingelte. Mit der Küche war ich noch immer nicht fertig, was leider nicht meinen Erwartungen entsprochen hatte. Dagegen hatte ich allerdings erwartet, mehr Schwierigkeiten mit dem Heruntertragen der Betten zu haben. Desweiteren stellte sich meine Angst als unbegründet heraus, dass die Neue Arbeit die Polsterliegen vielleicht doch nicht haben wollen würde. Im Gegensatz zur Caritas waren die jedoch hellauf begeistert und nahmen unsere Betten mit Kusshand. Wir hätten keinerlei Zeit mehr gehabt, um für etwaige Entsorgungen einen Termin zu vereinbaren, auch die natürlich nur gegen ein entsprechendes Entgelt.
Gen Nachmittag waren schließlich auch meine Mutter und deren Freund anwesend, meine Freundin, sowie eine ihrer Arbeitskolleginnen und deren Freund. Ich hatte die Küche aufgegeben und räumte den Rest aus dem Arbeitszimmer zusammen, unsere gesamten Unterlagen. Im Treppenhaus hatte sich eine Kette gebildet. Selbst unser Nachbar half uns beim Tragen, wobei uns beispiels- und üblicherweise die Waschmaschine die größten Schwierigkeiten bereitete. Dabei fiel mir erst einmal auf, wie viel Elektronik wir besaßen: zwei Fernseher, zwei DVD-Player, sogar noch einen Videorekorder, zwei Musikanlagen - am meisten hatte ich mir um meinen Schallplattenspieler und um die Playstation 2 Sorgen gemacht. Eine Playstation 1 besaßen wir auch noch, die zweite Playstation 2 hatte ich schon zuvor einer Freundin auf "unbestimmte Zeit ausgeliehen".
Mir war bereits vorher aufgefallen, wie klein der Transporter ausfiel, in welchem der Vater meiner Freundin vorgefahren war. Doch noch hegte ich Hoffnung... bis die letzte Kleinigkeit im Wagen verstaut war und wir feststellen mussten, dass in der Wohnung dem Augenschein nach noch alles stand. Das bedeutete, dass der Transporter vorerst die 350 km nach Merseburg gefahren und entladen werden musste, um dann wieder 350 km zurück ins Sauerland für die nächste Beladung zu fahren. Der Vater meiner Freundin setzte sich mit einem Lächeln und ohne ein Wort in den Transporter und sollte erst am nächsten Tag wieder auftauchen.
Er hatte für die Nacht zwei Zimmer in einem Etaphotel gebucht. Bis 22 Uhr musste man eingecheckt haben, sonst bekam man keinen Code für die Türen und die Buchung verfiel trotz Bezahlung. Zwar war zu diesem Zeitpunkt noch genügend Spielraum zum Einchecken, doch meine Mutter hielt meine Freundin und mich dazu an, erst einmal das zu erledigen und dann zum weiteren Einräumen zurückzukommen. Eine bescheuerte und sprittverschwendende Idee, dachte ich anfangs. Bis sich herausstellte, dass das angeblich gebuchte Etaphotel im Osten von Dortmund gar nicht unseren Namen vermerkt hatte. Der Vater meiner Freundin hatte versehentlich einen Fehler gemacht und ein Hotel im Westen von Dortmund, kurz vor Bochum gebucht. Wir standen an der Rezeption, ich schaute verstört auf die Uhr. Und sagte kein Wort, während ich mich wieder ins Auto setzte und losfuhr. Das würden wir schon schaffen, es wäre nicht weit, versicherte ich meiner Freundin. Dabei wusste ich ganz genau, wo das Etaphotel liegen musste und dass die Strecke alles andere als zügig erreichbar sein würde. Zum Glück gehörte es noch nie zu meinen Stärken, mich an Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten.
Fünf Minuten vor 22 Uhr kamen wir an. Und fuhren vom Zentrum des Ruhrgebiets sofort wieder zurück ins hochsauerländische Zentrum, wo wir meine aufgelöste Mutter antrafen. Sie hatte voller Grauen bemerkt, dass in der Küche noch fast alle Schränke voll waren, und sich so schnell wie möglich ans Ausräumen gemacht. Die gesamte Zeit, die wir für das Zurücklegen unseres Weges benötigt hatten, hatte sie mit dem Anhäufen von weiteren Kisten verbracht. In der Küche stand nur noch das Lebensnotwendigste: die Kaffeemaschine.
Komischerweise fanden wir an diesem Abend vor Erschöpfung jede Kleinigkeit sehr lustig. Weit nach Mitternacht kamen wir erst im Etaphotel an und wussten, dass wir am Morgen sehr früh aufstehen mussten. Die Wohnung hatten wir im Chaos hinterlassen. Am Nachmittag des nächsten Tages sollte die Wohnungsübergabe sein...

Dienstag, 20. Oktober 2009

Historiographie im Zirkel philologischer Zuschreibungen

Vor dem frühen neunzehnten Jahrhundert wurde die Historiographie als Zweig der Redekunst und damit als passender Gegenstand für die Theorie der Rhetorik betrachtet. Im Gefolge der Bemühung, historische Studien wissenschaftlicher zu gestalten, wurde jedoch die Ehe der Historiographie mit der Rhetorik im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geschieden. Der zweifache Angriff auf die Rhetorik, zum einen seitens der romantischen Poetik, und zum anderen von Seiten des Positivismus, führte dazu, dass die Rhetorik von der westlichen Hochkultur in Acht und Bann geschlagen wurde. "Literatur" als Praxis des "Schreibens" nahm nun den Platz ein, den vormals die Redekunst innehatte, und die "Philologie" verdrängte die Rhetorik als die allgemeine Wissenschaft der Sprache. Das theoretische Problem der Geschichtsschreibung wurde von da an im Rahmen der Frage nach der Beziehung von Geschichte und Literatur erörtert. Da die Literatur aber gewöhnlich als das geheimnisvolle Ergebnis "dichterischer Kreativität" galt, war das Problem unlösbar. Hinsichtlich des Verhältnisses der Geschichte zur Philologie wurde allgemein anerkannt, dass die Philologie nichts anderes sei als die auf die Untersuchung sprachlicher Phänomene angewandte "historische Methode". Nun wurde aber die "historische Methode" ihrerseits einfach als die auf das Studium historischer (dokumentarischer) Zeugnisse angewandte "philologische Methode" betrachtet, womit sich das Methodenproblem in einem ausweglosen tautologischen Zirkel verfing.
Hayden White

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Wenn ein Mensch lebt

Vorlage für den Einzelteil
Wie man sich hinterm Sarg anstellt

Warum soll man keinen Menschen töten?
Weil immer jemand deswegen weint.


Ich erinnerte mich daran, als meine Schwester und ich auf irgendeiner Beerdigung waren, von der ich jetzt nicht mehr weiß, wer eigentlich gestorben war, weil solche Veranstaltungen immer gleich ablaufen. Jedenfalls mussten meine Schwester und ich wegen irgendeiner Sache lachen, sodass wir es kaum zu unterdrücken vermochten, während wir von einigen Seiten böse Blicke ernteten. So ist es also, wenn man auf einer Beerdigung lacht, dachte ich damals.
Ich erinnere mich daran, dass bei irgendeiner Beerdigung, vielleicht war es dieselbe, sich ein paar Leute darüber aufregten, dass ein Bekannter von mir in Jeanshosen aufgetaucht war.
Und ich erinnere mich an das abgestumpfte Lächeln, als meine Mutter irgendwann sagte: "Das passiert halt."
Viel früher dachte ich noch nicht, dass so etwas "halt passiert". Aber da nahm ich auch noch an, man müsste auf Beerdigungen weinen und still sein. Jetzt weiß ich, dass man es auf unterschiedliche Weise hinter sich bringen kann, auch durch Lachen und Langeweile. Das passiert halt. Man gewöhnt sich an alles.
Mit der Zeit habe ich mich nur gewundert, was bei solchen Ereignissen alles erzählt wird. Von wem spricht der Typ da vorn? Das habe ich mich ständig gefragt. Eigentlich sollte man sich jedes Mal einen anderen aussuchen, der die Rede hält, sonst hört man stets dasselbe Zeug. Niemand sagt so etwas wie: "Wurde auch Zeit" oder "Na endlich".

Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt
Sagt die Welt, dass er zu früh geht
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt
Sagt die Welt, es ist Zeit...
...dass er geht

(Puhdys)

Der Tod macht jeden Menschen zum Engel, zum fehlerlosen Nichts.
Jedes Mal mache ich mir einen Spaß daraus, mich von meinem eigenen Verhalten überraschen zu lassen, ob meine Hand ein wenig Erde ins Grab wirft oder ein paar Blumenblätter oder beides, was meist vorkommt, oder einfach gar nichts, man stelle sich das mal vor ...

Freitag, 9. Oktober 2009

Oh Captain, mein Captain!



Oh Captain, mein Captain
Die schwere Fahrt ist aus
Das Schiff hat jedem Sturm getrotzt
Nun kehren wir stolz nach Haus
Der Hafen grüßt mit Glockenschall
Und tausend Freudenschreien
Vor aller Augen rauschen wir auf sichrem Kiel herein
 
Aber Herz, ach Herz, ach Tropfen blutig rot
Wo auf dem Deck mein Captain liegt
Gefallen, kalt und tot
 
Oh Captain, mein Captain
Steh auf und hör den Schall
Steh auf, dir gilt der Flaggengruß
Dir gilt das Jauchzen all
Die Sträuße dir, die Kränze dir
Und weit entlang am Strand
Das Menschenmeer, Gesichtermeer
Dir freudig zugewandt
 
Hier Captain, liebster Vater
Hier ist mein Arm als Halt
Es ist nur Traum, dass du hier liegst
Gefallen, tot und kalt
 
Mein Captain gibt nicht Antwort
Seine Lippen sind bleich und still
Mein Vater fühlt nicht meinen Arm
Hat nicht mehr Kraft noch Will
Das Schiff liegt heil vor Anker nun
Die Reise ist nun aus
Von schwerer Fahrt, das Siegerschiff
Kam vom Triumph nach Haus
 
Jauchzt, ihr Gestade, Glocken dröhnt
Ich aber knie in Not
Wo auf dem Deck mein Captain liegt
Gefallen, kalt und tot


Andere Übersetzung:

O Käpt’n, mein Käpt’n, zu End’ ist unsre Reis’
wir haben jedes Riff umschifft, der Sieg war unser Preis.
Am Kai entlang der Glockenklang, der Menge Lustgespinster;
das Auge folgt dem festen Kiel, der Barke, wild und finster.
 
O Herz, o mein Herze!
O Tropfen feucht und rot,
wo auf dem Deck mein Käpt’n liegt,
gefallen, kalt und tot.
 
Erhebe dich, mein Käpt’n und hör den Glockenton!
Steh auf - dir ist die Flagg’ gehißt, dich grüßt das Jagdhorn schon.
Mit Bändern, Blumen tausendfach der Hafen ist geschmückt
für dich allein. Es ruft nach dir die Menge hoch beglückt.
 
O Käpt’n, mein Vater!
Mein Arm, dem Haupt zum Halt.
Im Traum nur liegst du auf dem Deck,
gefallen, tot und kalt.
 
Mein Vater gibt nicht Antwort, sein Mund ist bleich und still.
Mein Vater spürt nicht meinen Arm, hat weder Puls noch Will.
Das Schiff, es geht vor Anker. Zu End’ ist seine Reis’,
zurück gekehrt nach wilder Fahrt - der Sieg, das war der Preis.
 
Ihr Ufer, jauchzt! Ihr Glocken, klingt!
Ich aber geh in Not
dahin, wo nun mein Käpt’n liegt,
gefallen, kalt und tot.


Original:

O Captain my Captain! our fearful trip is done;
The ship has weather’d every rack, the prize we sought is won;
The port is near, the bells I hear, the people all exulting,
While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring:
 
But O heart! heart! heart!
O the bleeding drops of red,
Where on the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
 
O Captain! my Captain! rise up and hear the bells;
Rise up - for you the flag is flung - for you the bugle trills;
For you bouquets and ribbon’d wreaths - for you the shores a-crowding;
For you they call, the swaying mass, their eager faces turning;
Here Captain! dear father!
This arm beneath your head;
It is some dream that on the deck,
You’ve fallen cold and dead.
 
My Captain does not answer, his lips are pale and still;
My father does not feel my arm, he has no pulse nor will;
The ship is anchor’d safe and sound, its voyage closed and done;
From fearful trip, the victor ship, comes in with object won;
Exult, O shores, and ring, O bells!
But I, with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
Walt Whitman

Dienstag, 6. Oktober 2009

Kants Kontamination von Prädikation und Synthesis

Im "Spiegel der Natur" stellt sich Richard Rorty die Frage, wie es überhaupt zu einer derartigen philosophischen Richtung wie der Erkenntnistheorie kommen konnte, die nach Descartes‘ Meditationen das Mentale als inneren Raum erfunden hat. Es wurde die Meinung postuliert, allein der Mensch hätte primären Zugang zu seinen mentalen Zuständen und nur aus dem eigenen Geist heraus sei es möglich, Erkenntnis zu erlangen. Trotz dieser nicht empirisch nachweisbaren Theorie begann sich die Philosophie als Wissenschaft zu verstehen und wurde unter Immanuel Kant sogar zum Fundament und Tribunal der Wissenschaft.
Doch was Kant mit seinen Anschauungen zu erreichen versucht, geht in einer Vermengung unterschiedlicher Begrifflichkeiten und Neudefinitionen unter. Soll über ein Erkenntnisproblem tatsächlich eine Theorie möglich sein, können wir nach Rortys These bloß von einem solchen Problem sprechen, wenn wir das Erkennen als eine Ansammlung von Darstellungen betrachten. Nur das bleibt für die Philosophie übrig, nachdem sich die Einzelwissenschaften so weit ausdifferenziert haben, dass sie unlängst in der Lage sind, alle Themengebiete abzudecken.
Darum ist zu klären, wie jene Kontamination aussieht, die Kant in seiner eigenen Rechtfertigungstheorie von John Locke aufnahm und fortführte. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gebieten der Epistemologie, nämlich der Erkenntnis und der Erfahrung. Wie geht die moderne Philosophie sprachanalytisch mit diesen Themen um und welche Rolle spielt das für die Gesamtkritik Rortys?

Erkenntnisgewinn
Richard Rorty meint, die Wahrheit eines Satzes bestünde bei der Kantischen Philosophie darin, die beiden voneinander verschiedenen Vorstellungen von Anschauungen und Begriffen aufeinander zu beziehen.  In der "Kritik der reinen Vernunft" führt Kant diesen Gedanken so aus, dass unser Denken einen unmittelbaren Zugriff auf Anschauungen hat, um Erkenntnis zu erlangen. Durch die Sinnlichkeit, also die Fähigkeit zur Aufnahme äußerer Eindrücke durch die Sinne, erhalten wir Vorstellungen von diesen Anschauungen. Nach der Verarbeitung der Eindrücke entspringen unserem Verstand Begriffe. Alles Denken muss sich also auf Sinnlichkeit und Anschauungen beziehen, weil uns anders kein Gegenstand gegeben sein kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit ist die Empfindung. Anschauungen, die sich auf den Gegenstand durch Empfindungen beziehen, sind empirisch und der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.
Die vorkantische Philosophie stellte sich als Kampf zwischen Rationalisten und Empiristen dar. Erstere wollten jegliche Empfindungen auf bloße Begriffe reduzieren, während die Empiristen meinten, die Erkenntnis sei aus unserer Erfahrung gegeben und deshalb völlig begriffsfrei. Nach Rortys Meinung hätte man die Problematik anders beschreiben müssen, indem deutlich gemacht worden wäre, dass die Rationalisten nur Propositionen über sekundäre Qualitäten durch anders geartete Propositionen zu ersetzen suchten, die eine gleiche Funktion inne haben und dennoch mit Gewissheit zutreffen sollten.  Als Rückgriff auf Locke werden primäre Qualitäten dadurch charakterisiert, dass sie außerhalb des Geistes in undenkbaren Substanzen bestehen. Dagegen sind die sekundären Qualitäten sinnlich und existieren im Geist unabhängig vom Subjekt, somit jedoch abhängig von den primären Qualitäten, durch die sie veranlasst werden. Der Mensch kann nur durch seine Wahrnehmung auf die sekundären Qualitäten zugreifen, während ihm der direkte Zugang zu den primären Qualitäten verwehrt ist.  Diese Idee vergleicht Rorty mit dem Bild eines Spiegels, auf dem die äußere Natur in unserem Inneren aufgenommen und reflektiert wird. Nur so meint der Mensch über die Außenwelt Kenntnisse erlangen zu können und ist gleichzeitig davon überzeugt, aus erster Hand Zugang auf den inneren Spiegel zu haben, quasi als Schiedsrichter im Heimspiel über die eigene Erkenntnis.
Locke stellte bereits die Weichen für jenen Fehlschluss, der es scheinbar ermöglichen sollte, Fragen der Geltung mit der Genese zu beantworten. Dabei handelt es sich logisch um zwei voneinander völlig verschiedene Probleme, wenn ich mich auf der einen Seite frage, wie ich zu meiner Auffassung gekommen bin, und auf der anderen Seite wissen will, ob diese Auffassung wahr ist.
Nach der Kopernikanischen Wende Kants leiten sich Gegenstände von unserer Erkenntnis ab. Wir geben den Gegenständen unsere Begriffe, nicht andersherum. Denn sollten sich die Anschauungen nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten, dann könnte man Kant zufolge a priori nichts von ihnen wissen. Wenn sich aber das Objekt, das wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens richtet, ist diese Möglichkeit durchaus denkbar.
In diesem Zusammenhang schuf Kant in seiner Erkenntnistheorie einen umfassenden Begriffsrahmen, der die moderne Philosophie prägte. Es ging fortan um die Beziehung zwischen Universalien und dem Einzelnen, also dem Schluss vom Äußeren auf das Innere. Daraus ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt Rortys. Es geschieht nämlich eine Vermengung von Prinzipien und Urteilen. Kant selbst spricht zwar von Begriffen, bezieht sich jedoch nicht auf Sätze oder Propositionen, sondern auf innere Vorstellungen.

Erfahrung
Ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie ist die Erfahrung, die in der Philosophie eine Bedeutung unabhängig von ihrer alltäglichen Verwendung erhalten hat. Um die Epistemologie zu verstehen muss man mittlerweile einen ganzen Katalog an Philosophen gelesen haben. Zwar bleiben die verwendeten Begrifflichkeiten gleich, sie werden jedoch von jedem Erkenntnistheoretiker mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen. Somit besteht die Erfahrung nur noch als „philosophischer Kunstausdruck“.
Descartes definierte als erster in einer dualistischen Vorstellung die Res cogitans als das denkende Ding, das der Mensch darstellt.  Das Mentale wurde somit zur eigenen abgetrennten Dimension. Im Zuge dessen erschuf John Locke eine Theorie der Erkenntnis, die auf der Analyse der mentalen Prozesse beruhte. Er griff den cartesianischen Dualismus auf, indem er das Erfahren in ideas of reflexion (das Denken) und ideas of sensation (die Wahrnehmung) unterteilte. Für Kant hingegen dient die Erfahrung als „Gegenstand und Methode der Erkenntnis“. In diesem Sinne stellt sie den „denkgesetzlichen Zusammenhang aller Funktionen der Erkenntnis“ dar.  Kant greift jedoch die epistemologischen Punkte Lockes auf, die Rorty im Kapitel über die Kontamination von Erklärung und Rechtfertigung kritisierte. Wenn man auf diese Weise denken und erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen will, muss man sich auf die komplexen Annahmen und Begrifflichkeiten einlassen.
Unser Denken ist nur insofern „philosophisch, wenn es, wie das Kantische, nach Ursachen von, also gerade nicht nur nach Gründen für empirische Wissensansprüche sucht“.  Da Kant demnach nicht bloß Rechtfertigungen herausstellt, die uns zum Handeln bringen, betrachtet Rorty die Theorie Kants ungewöhnlicherweise als eine kausale Theorie. Im Rationalismus wird die Ursache notwendig mit der Wirkung verknüpft, doch für Kant stellt Kausalität (ähnlich wie bei David Hume) kein logisches Prinzip dar. Kant würde seine eigene Philosophie also nicht wie bei naturwissenschaftlichen Lehren als kausale Theorie auffassen. Diese Annahme Rortys führt zu einem Widerspruch. Nähme man in der Kantischen Philosophie Kausalität an, wäre die Notwendigkeit der Vernunft und des vernünftigen Handelns nicht mehr gegeben. Es geht schließlich nicht um die Rechtfertigung der Urteile, sondern um die Bildung und die Möglichkeiten unserer Vernunft.

Sprachspiel der modernen Philosophie
Die Kantische Philosophie besteht aus einer Vielzahl von Begriffen, die man verstehen muss. Aber gerade die Unterscheidungen und Gleichsetzungen jener Begriffe können zu der genannten Kontamination führen, sodass die Philosophie, um es mit Wittgensteins Worten zu beschreiben, ihr eigenes Sprachspiel besitzt, welches Außenstehenden unzugänglich bleibt. All jene Definitionen dienen bei Kant nur zur Begründung seiner Theorie und besitzen davon losgelöst keinen sinnvollen Inhalt. Grundsätzlich funktioniert jede erkenntnistheoretische Unterscheidung nur im Sprachspiel der Philosophie.
Philosophisches Denken setzt deshalb eine Unterscheidung von Anschauungen und Begriffen, Sinnlichkeit und Verstand bereits voraus und lässt sich auf Lockes Kontamination von Kausalität und Rechtfertigung ein.  Wenn Locke meint, dass nichts in unserem Intellekt sein kann, wenn wir es nicht vorher mit den Sinnen wahrgenommen haben, schließt sich Kant dieser Metaphorik an.
Um auf die von Rorty genannte Kontamination einzugehen, werden im Folgenden zuerst die Bezeichnungen geklärt. Die Prädikation, die ganz allgemein auch als Teil des Sprechaktes bezeichnet werden kann, stellt eine Handlung oder auch eine Aussage dar, bei der einem Gegenstand eine Eigenschaft oder Relation zugesprochen wird. Sie hat die Funktion, sprachliche Unterscheidungen einzuführen. In der Synthesis wird eine Vielzahl von Sinneseindrücken zu einer Vorstellungs- oder Begriffseinheit zusammengeschlossen. Explizit auf Kant bezogen bezeichnet das eine Verbindung der in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigkeit zu einer Einheit des Gegenstandes. In ihrer allgemeinsten Bedeutung definiert Kant Synthesis als „die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen“.  Synthetische Urteile erweitern im Gegensatz zu den analytischen Urteilen die Erkenntnis, da das Prädikat nicht im Subjekt enthalten ist. Diese Synthesis unterscheidet sich von Humes Auffassung der Ideen. Hume trennt zwischen Empfindung und Erinnern. Aller Stoff des Geistes ist aus dem inneren und äußeren Gefühl abgeleitet und die Gedanken lösen sich bei der Zergliederung in Vorstellungen auf, die den Empfindungen nachgebildet sind. Dagegen ist die Synthesis bei Kant eine Relation, die nur zwischen allgemeinen und einfachen Ideen bestehen kann. Rorty sieht diese Theorie durch die beiden Voraussetzungen gestützt, dass erstens Mannigfaltigkeit notwendig gegeben ist und dass zweitens eine Einheit daraus hergestellt wird.  Nach Kant könnten Humes Anschauungen nicht zu Bewusstsein gebracht werden, wenn sie nicht durch Begriffe synthetisiert werden würden. Wir können Bewusstsein nur von Dingen haben, die durch unser eigenes verbindendes Denken konstituiert wurden.
Rorty ist der Meinung, Kant hätte anstatt seiner irreführenden Gleichsetzung des einzelnen Urteils mit der sinnlichen Gegebenheit „Erkenntnis als eine Relation zwischen Personen und Propositionen“  beschreiben sollen. Es liegt also eine Verwechslung von Propositionen und Begriffen vor. Dahingehend folgt Rorty der Ansicht des späten Wittgensteins, dass Begriffe eben nicht alle gemeinten Inhalte ausdrücken können.
Wenn man sich keine Grundlage durch die Lektüre der wichtigsten erkenntnistheoretischen Philosophen geschaffen hat, stellen sich berechtigte Fragen ein. Woher nehmen wir dieses Mannigfaltige, das uns Kant als Voraussetzung vorstellt? Woher wissen wir, dass es mehr als eine solche Anschauung gibt? Gäbe es nur eine einzige, wäre so etwas wie Synthesis gar nicht nötig. Anschauungen und Begriffe sind in diesem Zusammenhang nur der „Kontextdefinition fähig“,  um die Theorie Kants zu stützen. Die beiden genannten Voraussetzungen sind nur dann als Rechtfertigung zulässig, wenn wir tatsächlich auf diese Weise Erkenntnis durch synthetische Urteile a priori erlangen können. Legt man die Bedingungen, die Kant postuliert, im Sinne Rortys aus, verliert unser Zugriff auf den Spiegel der Natur schlagartig an Relevanz. Das Bewusstsein als Forschungsgebiet im inneren Raum wird abgeschafft.

Fazit
In der dualistischen Vorstellung der Erkenntnistheorie stehen sich zumeist zwei nach Rorty unvereinbare Positionen gegenüber. Auf der einen Seite befindet sich die Genese als Ursprung und Ausgangspunkt, auf der anderen Seite die Geltung als Wahrheit unabhängig von der Wirklichkeit, mit Kants Worten also eine Relation zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Der Kantische Transzendentalismus kann im Sinne einer Geltungstheorie interpretiert werden, da es ihm um die Rechtfertigung und Begründung der menschlichen Erkenntnis geht. Damit Geltungsansprüche legitimiert werden können, müssen vorher fundamentale Bedingungen erfüllt sein. Das will Kant durch seine transzendentale Deduktion erreichen, indem Begriffe a priori festgelegt werden, die somit objektive Gültigkeit besitzen und allgemeine und notwendige Erkenntnis möglich machen. Im Neukantianismus wird der Geltung dementsprechend das Sein gegenübergestellt. Doch ist es ein Fehlschluss, von der Entdeckung automatisch auf die Begründung zu schließen. Die Erklärung auf der einen Seite stellt einen Schluss vom Gegenstand auf die Person dar, wohingegen die Rechtfertigung den Schluss auf eine Person nur durch die Proposition zulässt, also jenen gedanklichen Inhalt, der durch einen Satz ausgedrückt wird. Wenn wir nach synthetischen Urteilen a priori suchen, dann besitzen wir am Ende keinen privilegierten Zugang mehr zur Erkenntnis.
Nach Rortys Hauptthese liegt der Fehler der Erkenntnistheorie in der Verknüpfung des Mentalen mit dem Fundamentalen. Im Gegensatz zu der Idee des Bewusstseins, die Descartes, Locke und Kant gemeinsam war, vertritt Rorty in vielen Belangen einen holistischen Materialismus. Dabei orientiert er sich größtenteils an Heidegger, Wittgenstein und Dewey. Die vorherigen Annahmen der Philosophie werden demnach nicht widerlegt, sondern verabschiedet.