Autobahn von Bochum nach Dresden
"Entschuldigung, aber Sie können sich nicht exmatrikulieren, wenn Sie
noch Leistungsnachweise erhalten wollen. Sie sind dann nicht mehr in
unserem System erfasst."
"Aber die Dozenten haben doch noch Monate Zeit, um die Nachweise
herauszugeben. Ohne Exmatrikulation kann ich mich in der neuen Uni nicht
immatrikulieren."
"Da müssen Sie mal bei denen nachfragen."
Als ob ich das nicht schon mehrmals getan hätte, dachte ich genervt,
wobei mir voller Unmut der nächste Tag einfiel. Dann hätte ich die
Chance, persönlich zu der neuen Universität in Dresden zu gehen.
Gleichzeitig läge Bochum dann allerdings längst hinter mir. Immer mehr
stellte sich mir die Frage, wie das funktionieren sollte. Wie hätte ich
es auch innerhalb eines knappen Monats schaffen sollen, alle meine
Hausarbeiten zu schreiben, obwohl ich zu dieser Zeit Stunden brauchte,
um hinter meinen Modulbescheinigungen herzurennen, obwohl einige
Dozenten spurlos das Land verlassen zu haben schienen, obwohl ich mit
dem bevorstehenden Umzug genug zu tun hatte, später ohne Internetzugang
sein würde und ohne die Möglichkeit, Bibliotheken zu besuchen? Ein
knapper Monat unter diesen Umständen. Eigentlich hätte ich drei Monate
Zeit gehabt. Doch jedes vorige Wochenende war dafür draufgegangen,
unzählige Bücher, DVDs und CDs einzupacken, die von unseren Verwandten
die lange Strecke vom Sauerland bis nach Merseburg gebracht wurden, 350
km weit.
Meine Freundin und ich hatten mit Sicherheit nicht die Idee, das alles
ohne Umzugsunternehmen zu schaffen. Aber der Vater meiner Freundin
schien zuversichtlich und meinte, er hätte Beziehungen, um an einen
Transporter heranzukommen, der schon reichen würde, damit wir uns nicht
für zwei Tage ein teures Unternehmen leisten mussten. Damit begann die
Odyssee.
Auf den ersten Blick sah es in der Wohnung so aus, als seien die meisten
Dinge schon zusammengeräumt. Wir waren davon ausgegangen, dass die
Bücher den größten Stress bedeuten würden, belaufend ungefähr auf 3000
Stück. Es war Donnerstagmorgen. Meine Freundin musste noch zur Arbeit
und ich bemühte mich, Kiste um Kiste mit unseren Habseligkeiten zu
füllen. In weiser Voraussicht, die sich später als nutzlos herausstellen
sollte, hatte ich bereits eine Tasche mit allen wichtigen Dingen
gepackt, die ich in den kommenden Tagen der Heimatlosigkeit benötigen
würde. Aus diesem Grund hatten wir eine ganze Ladung Wäsche gewaschen,
die dummerweise noch immer nicht trocken war. Beim Einräumen war viel
Müll angefallen, da wir in den letzten Wochen Zeitungen und Tüten
gesammelt hatten, um die Bücher und den ganzen Rest sicher zu verstauen.
Noch dazu war ich überrascht, wie viele Glasflaschen sich plötzlich
angesammelt hatten. Leere Alkoholflaschen von den letzten Gelagen. Aber
irritierenderweise auch ein kompletter Bierkasten (natürlich leer), den
der Freund meiner Mutter, Wolfgang, im Keller "vergessen" hatte. Direkt
neben einer Werkzeugtasche von ihm, die er jedes Mal aus Faulheit hatte
stehen lassen, wenn er nach einem Besuch wieder abfuhr, bei der er uns
jedoch stets vorhielt, dass sie sich noch immer in unserem Besitz
befinden würde. Da meine Freundin jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit
fuhr, musste ich das alles zu Fuß erledigen. Dazu muss gesagt werden,
dass unser Haus auf einem Berg lag. Im Sauerland gibt es bekanntermaßen
viele Berge. Dagegen war unsere Erhebung sicher nur ein Hügel. Ein
solcher Hügel kann sich allerdings erstaunlich schnell in den
Kilimandscharo verwandeln, wenn man ihn ein paar Mal runter und wieder
hoch gelaufen ist, während man mit mehreren Glasflaschen, wahlweise
einem Bierkasten beladen ist, um zum Glascontainer und zur
Leergutannahme des Einkaufszentrums zu gelangen. Ich weiß nicht mehr,
wie oft ich diesen Weg gehen musste, bis alles weggeschafft war. Zur
weiteren Information, wir wohnten im dritten Stock, selbstverständlich
ohne Aufzug.
Danach machte ich mich so schnell wie möglich daran, die Bettkästen
unserer Polsterliegen auszuräumen. Gegen Mittag sollte der Vater meiner
Freundin mit dem Transporter kommen. Da wir sowieso neue Liegen kaufen
wollten, mussten die alten erst einmal weggebracht werden. Ich hatte in
den Tagen zuvor mit der Caritas telefoniert. Die wollten unsere Betten
allerdings nicht haben, wie erwartet. Sie hätten angeblich keine
Lagerkapazitäten für solcherlei Möbelstücke. Ich erinnerte mich daran,
dass wir einem solchen Umstand zwei Jahre zuvor unsere Küche verdankten.
Eine komplette Einbauküche von verstorbenen Verwandten meinerseits, die
von der Caritas nicht angenommen wurde, da sie deren Zustand nicht den
hilfsbedürftigen Armen zumuten könnten. Für meine Freundin und mich war
sie komischerweise noch gut genug, obwohl wir uns nicht als
"hilfsbedürftig" bezeichnen würden. Wenn man sein Geld vom Staat
bekommt, hat man womöglich andere, das heißt höhere Ansprüche.
Glücklicherweise hatte ich kurz vor dem Umzug von der Neuen Arbeit in
Arnsberg gehört. Die hatten zwar keine Zeit, um die Liegen abzuholen,
versicherten uns allerdings, dass sie diese auf jeden Fall annehmen
würden. Ich bangte noch immer, während ich in aller Eile die Wäsche
abnahm, gerade rechtzeitig, als der Vater meiner Freundin bereits
klingelte. Mit der Küche war ich noch immer nicht fertig, was leider
nicht meinen Erwartungen entsprochen hatte. Dagegen hatte ich allerdings
erwartet, mehr Schwierigkeiten mit dem Heruntertragen der Betten zu
haben. Desweiteren stellte sich meine Angst als unbegründet heraus, dass
die Neue Arbeit die Polsterliegen vielleicht doch nicht haben wollen
würde. Im Gegensatz zur Caritas waren die jedoch hellauf begeistert und
nahmen unsere Betten mit Kusshand. Wir hätten keinerlei Zeit mehr
gehabt, um für etwaige Entsorgungen einen Termin zu vereinbaren, auch
die natürlich nur gegen ein entsprechendes Entgelt.
Gen Nachmittag waren schließlich auch meine Mutter und deren Freund
anwesend, meine Freundin, sowie eine ihrer Arbeitskolleginnen und deren
Freund. Ich hatte die Küche aufgegeben und räumte den Rest aus dem
Arbeitszimmer zusammen, unsere gesamten Unterlagen. Im Treppenhaus hatte
sich eine Kette gebildet. Selbst unser Nachbar half uns beim Tragen,
wobei uns beispiels- und üblicherweise die Waschmaschine die größten
Schwierigkeiten bereitete. Dabei fiel mir erst einmal auf, wie viel
Elektronik wir besaßen: zwei Fernseher, zwei DVD-Player, sogar noch
einen Videorekorder, zwei Musikanlagen - am meisten hatte ich mir um
meinen Schallplattenspieler und um die Playstation 2 Sorgen gemacht.
Eine Playstation 1 besaßen wir auch noch, die zweite Playstation 2 hatte
ich schon zuvor einer Freundin auf "unbestimmte Zeit ausgeliehen".
Mir war bereits vorher aufgefallen, wie klein der Transporter ausfiel,
in welchem der Vater meiner Freundin vorgefahren war. Doch noch hegte
ich Hoffnung... bis die letzte Kleinigkeit im Wagen verstaut war und wir
feststellen mussten, dass in der Wohnung dem Augenschein nach noch
alles stand. Das bedeutete, dass der Transporter vorerst die 350 km nach
Merseburg gefahren und entladen werden musste, um dann wieder 350 km
zurück ins Sauerland für die nächste Beladung zu fahren. Der Vater
meiner Freundin setzte sich mit einem Lächeln und ohne ein Wort in den
Transporter und sollte erst am nächsten Tag wieder auftauchen.
Er hatte für die Nacht zwei Zimmer in einem Etaphotel gebucht. Bis 22
Uhr musste man eingecheckt haben, sonst bekam man keinen Code für die
Türen und die Buchung verfiel trotz Bezahlung. Zwar war zu diesem
Zeitpunkt noch genügend Spielraum zum Einchecken, doch meine Mutter
hielt meine Freundin und mich dazu an, erst einmal das zu erledigen und
dann zum weiteren Einräumen zurückzukommen. Eine bescheuerte und
sprittverschwendende Idee, dachte ich anfangs. Bis sich herausstellte,
dass das angeblich gebuchte Etaphotel im Osten von Dortmund gar nicht
unseren Namen vermerkt hatte. Der Vater meiner Freundin hatte
versehentlich einen Fehler gemacht und ein Hotel im Westen von Dortmund,
kurz vor Bochum gebucht. Wir standen an der Rezeption, ich schaute
verstört auf die Uhr. Und sagte kein Wort, während ich mich wieder ins
Auto setzte und losfuhr. Das würden wir schon schaffen, es wäre nicht
weit, versicherte ich meiner Freundin. Dabei wusste ich ganz genau, wo
das Etaphotel liegen musste und dass die Strecke alles andere als zügig
erreichbar sein würde. Zum Glück gehörte es noch nie zu meinen Stärken,
mich an Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten.
Fünf Minuten vor 22 Uhr kamen wir an. Und fuhren vom Zentrum des
Ruhrgebiets sofort wieder zurück ins hochsauerländische Zentrum, wo wir
meine aufgelöste Mutter antrafen. Sie hatte voller Grauen bemerkt, dass
in der Küche noch fast alle Schränke voll waren, und sich so schnell wie
möglich ans Ausräumen gemacht. Die gesamte Zeit, die wir für das
Zurücklegen unseres Weges benötigt hatten, hatte sie mit dem Anhäufen
von weiteren Kisten verbracht. In der Küche stand nur noch das
Lebensnotwendigste: die Kaffeemaschine.
Komischerweise fanden wir an diesem Abend vor Erschöpfung jede
Kleinigkeit sehr lustig. Weit nach Mitternacht kamen wir erst im
Etaphotel an und wussten, dass wir am Morgen sehr früh aufstehen
mussten. Die Wohnung hatten wir im Chaos hinterlassen. Am Nachmittag des
nächsten Tages sollte die Wohnungsübergabe sein...
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