Aphorismen als Alibi
Es gibt das Gute nicht. Und wenn einer das Gute repräsentiert, dann lügt er.
Mein Gott und dein Gott kennen einander nicht. Von Gott zu sprechen
ist eine Art, von sich selbst zu sprechen. Deshalb ist Moral ein anderes
Wort für Lüge.
Weit draußen unterm schwarzgefleckten Himmel, aus dem Boden schießt
das weißeste Eis. Barfuß und stolpernd weiter. Die Sohlen schreien. Es
regnet glühende Nägel, denen nicht zu entkommen ist. Schwefelmeere
brodeln mit weltfüllendem Gestank. In diesem Augenblick senkt sich der
universale Arsch Gottes aus dem Weltraum und scheißt seine Schöpfung ins
Exit. Für immer. Welch ein Glück, denkt man, während man in der
göttlichen Scheiße erstickt.
Die Intellektuellen huren heute mit der Öffentlichkeit genauso wie
vorher mit Gott. Wer das für einen Vorwurf hält, weiß nicht, was Gott
war und was die Öffentlichkeit ist.
Manchmal beherrscht einen das Gefühl, ganz und gar in diesem
Mediengewebe aufzugehen. Du bist nichts als ein Teil dieses
Mitteilungszusammenhangs. Und es gibt außer diesem Zusammenhang nichts.
Du wirst beatmet. Das heißt informiert. Du selber musst nicht mehr
leben.
Das Gegenteil von Kritik ist nicht Lob, sondern Zustimmung. Das ist
etwas anderes als Lob. Lob ist Überheblichkeit über den, den man lobt.
Lob ist Anmaßung, wie Kritik Anmaßung ist. Machtausübung beides. Wenn
man nicht zustimmen kann, soll man den Mund halten.
Vor allem anderen sind wir eine Gesellschaft von Verfolgten und
Verfolgern. Und jeder ist beides, Verfolgter und Verfolger. Jeder hat
eine deutlichere Erfahrung vom Verfolgtsein als davon, selber Verfolger
zu sein. Wir merken deutlicher, was uns angetan wird, als was wir
anderen antun.
Wir stoßen einander von den Planken eines sinkenden Schiffs.
Wie verständlich sind mir die Mörder. Schon wegen der Notwendigkeit,
die sie zum Ausdruck bringen. Sie geben zu, dass sie nicht anders
können.
Er dürstet nach Unmenschlichkeit, weil er sein will wie die, die ihn so gemacht haben.
Kein Verbrechen kommt ohne Utopie aus. Keine Utopie ohne Verbrechen.
Schriftsteller sind ununterbrochen (und ununterbrechbar) mit dem Notieren ihres Alibis beschäftigt.
Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus.
Martin Walser
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