Mittwoch, 30. Dezember 2009

Das Leben ist nur sinnloser Zufall

Schicksal. Bestimmung. Gott.
Das ist alles Schwachsinn.
Die Leute wollen, dass ihr Leben einen Sinn ergibt. Sie wollen sich hinsetzen und wie kosmische Detektive alle bisherigen Ereignisse in ihrem Leben unter die Lupe nehmen, die wichtigsten Wendepunkte identifizieren, die sie geprägt haben, und diese Momente rückwirkend mit einer mystischen Aura ausstatten. Als würden die himmlischen Mächte des Universums wie ein Autorenteam die Fernsehserie unseres Leben schreiben, damit beauftragt, sich ungeheuer verwickelte Handlungsstränge auszudenken, die sich dann am Ende der Staffel in Wohlgefallen auflösen sollen. Niemand möchte glauben, dass das alles völlig willkürlich abläuft und die Richtung, die wir mit unserem Leben einschlagen, nur auf einer komplexen Reihe von Zufällen beruht, kleinen Atompilzwolken, in deren Fallout wir leben.
Mein fast perfektes Leben von Jonathan Tropper

Dienstag, 15. Dezember 2009

Stolz der Toten

Solch ein Toter ist anders als einer, der gleich nach dem Tod eingeäschert wird, dachte ich. Die Toten in der Wanne hier haben sich gleichsam zu Dingen verdichtet, sind kompakte Gegenstände geworden, losgelöst vom Leben. Ein Toter, der schnell eingeäschert wird, ist nicht so gegenständlich, dachte ich, er ist weder Gegenstand noch Bewusstsein, sondern geht über in einen undefinierbaren Zwischenzustand. Bei eiliger Einäscherung bleibt ihnen keine Zeit, gegenständlich zu werden. Die Toten, die die Wanne füllten, hatten diesen gefährlichen Übergangszustand überwunden. Ich betrachtete mir diese Gegenstände.
Ja, schienen sie zu sagen, wir sind Gegenstände, und sehr präzis gemacht. Wer eingeäschert wird, hat keine Maße und kennt nicht das sichere Gefühl der Schwere.
So verhält es sich, dachte ich. Der Tod ist gegenständlich. Bisher hatte ich den Tod nur unter dem Aspekt des Bewusstseins betrachtet. Doch nach dem Aufhören des Bewusstseins wird der Tod gegenständlich.
Als der Krieg zu Ende ging, musste er in den Herzen der Erwachsenen verdaut werden, und das unverdaulich Harte wurde ausgeschieden.
"Eure Hoffnung war eine schwere Verantwortung für uns. Doch der nächste Krieg ist eure Sache."
Der nächste Krieg wird beginnen, ob wir wollen oder nicht, und dann werden wir im Strom der leeren Hoffnung ertrinken.
"Ihr seid es, die den nächsten Krieg beginnen werden! Wir Toten können nur noch zuschauen und kritisieren."
Die Verantwortung beim Gebären ist genauso schwer wie bei einem Mord.
Der Embryo und die Leichen, das sind beides eine Art von Menschen, bei denen der Körper keine Verbindung mit einem Bewusstsein hat. Es sind Menschen, aber sie sind nur eine Verbindung aus Fleisch und Knochen.
Kenzaburō Ōe

Samstag, 12. Dezember 2009

Sterben für Jerusalem

Buchvorstellung

Dieter Breuers
Sterben für Jerusalem
Der Erste Kreuzzug


Vor 900 Jahren ging der Erste Kreuzzug zu Ende - ein historisches Ereignis, das bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt hat und das immer wieder Gegenstand historischer Abhandlungen und romantischer Verklärung wurde.
Doch was mit frommen Absichten, hehren Zielen und mit dem Ruf "Gott will es!" auf den Lippen begann, verkam recht bald zu einem elenden Unternehmen: Brutalität, Neid, Hemmungslosigkeit, Habsucht, Hunger und Streit waren an der Tagesordnung.
Anhand der spannenden Lebensgeschichten verschiedener fiktiver Personen lässt Dieter Breuers eine Welt erstehen, die uns auch heute noch Schauer über den Rücken jagt.

Insgesamt finde ich dieses Buch sehr gut gelungen, weil es die historischen Fakten liefert, ohne zu sehr ins Detail abzuschweifen. Wenn ich komplett über den Ersten Kreuzzug aufgeklärt werden möchte, dann lese ich schließlich ein Fachbuch. Viele Autoren von historischen Romanen neigen dazu, alles endlos aufzudröseln und letztendlich keine guten Geschichten zu erzählen, weil sie sich zu sehr an das Geschehnis halten und damit jedes Buch gleich klingt. Dann gibt es wiederum Leute, die so ausschweifen, dass von der eigentlichen Geschichte kaum mehr ein Hauch von Wahrheit bleibt und alles eher wie ein Fantasyroman anmutet. Breuers findet einen guten Mittelweg. Er beleuchtet die Fakten, ohne auszuschweifen. Er kreiert fiktive Charaktere, die er mit dem tatsächlichen Geschehnis verbindet, ohne sie zu sehr in einen gefühlsbeladenen Mittelpunkt zu stellen. Und er nutzt einen knappen, für historische Romane ungewohnten Schreibstil.
Es gibt zum Teil auch Negatives zu vermerken. Bei manchen Dingen weiß man nicht, wie sehr sich der Autor auf Quellen stützt und wie viel er sich selbst erdacht hat. Beispielsweise das Finden der Longinuslanze. Dazu gibt es im Buch auch kein Quellen- bzw. Literaturverzeichnis. Natürlich bemängle ich beides nicht, weil es sich nun einmal um einen Roman, nicht um ein Fachbuch handelt. Dennoch besitzt das Buch ein Personen- und Sachregister. Großer Pluspunkt. Damit können wenige Romane aufwarten.
Man könnte auch bemängeln, dass Breuers die Geschichte des Ersten Kreuzzuges aus einem ausschließlich negativem Blickwinkel beleuchtet. Allerdings soll es schließlich gegen alle Verklärung gehen. Das merkt man dem Schreibstil übrigens an. Hart, kühl, brutal. Dennoch wird hier von Menschen geschrieben, nicht von Bestien. Darum erkenne ich durchaus eine Nähe zur Realität. Die kurzen Sätze trafen noch dazu genau den Punkt. Dadurch wurde ich des Lesens kein einziges Mal müde.
Gut finde ich auch das prägnante Fazit, das zum Schluss gezogen wird, auch wenn es das Christentum wiederum ein wenig verteufelt. Die ganze Zeit über ist auf allen Seiten der Gedanke vorhanden, selbst den richtigen Glauben zu vertreten und gegen Ungläubige zu kämpfen. Aber letztendlich beten alle gleich und mehr oder weniger auch den gleichen Gott an. Da die Christen zu diesen brutalen Mitteln griffen und die Stätten des anderen Glaubens vernichteten, stehen sie am Ende im schlechtesten Licht da. Und ihren Sieg verdanken sie allem Anschein nach weniger einer göttlichen Fügung, als vielmehr Rücksichtslosigkeit, Glück und der Legitimation ihrer Handlung durch ein irregeführtes Dogma.
Also, alles in allem ist das Buch auf jeden Fall empfehlenswert.

Montag, 30. November 2009

Rule of Rose

Eine ungeordnete Rückmeldung zum Gameplay

Rule of Rose
Konsole:
PS2
Genre: Survival Horror

Rule of Rose wurde (zur Zeit dieses Eintrags jedenfalls) nicht in Deutschland veröffentlicht, weshalb ich mich extra dafür bei Ebay angemeldet habe, um es mir aus Frankreich zuschicken zu lassen. Von vielen Leuten wird dieses Spiel als verabscheuungswürdig beschrieben, weil es ein Horrorspiel ist, das unschuldige Kinder diffamieren würde. Das Produktionsteam hat sich für Rule of Rose beispielsweise an Goldings "Herrn der Fliegen" orientiert. Hier wird die Grausamkeit psychologisch durch Kinder verkörpert.



Ehrlich gesagt habe ich mir bei diesem Trailer das Spiel anders vorgestellt habe. Es soll ja eine Menge kontroverse Diskussionen in Gang gesetzt haben. Natürlich sind die Kinder tatsächlich ein wenig durchgedreht und es gibt auch so manches Mal eine Szene, die einem sehr abstrus erscheint. Aber die Gegenreaktion zu diesem Spiel ist tatsächlich übertrieben. So schlimm ist Rule of Rose wirklich nicht.
Es hat wunderschöne Zwischensequenzen und eine sehr gute Grafik auch während des Spielens. Der Soundtrack ist auch toll, erinnert aber keinesfalls an Horror. Generell würde ich das Spiel nicht unbedingt in die Ecke Survival Horror stecken, auch wenn eine andere Einordnung schwer ist. Die Themen sind ernst, es tauchen auch schaurige Monster auf, die aus der Horrorversion von Alice im Wunderland stammen könnten. Die Märchen, an denen sich das jeweilige Kapitel orientiert, werden ähnlich behandelt wie in den Liedern von Oomph!.
Oft gestaltet sich das Spiel allerdings wie eine große Suchaktion, da man meist nur dem Hund Brown hinterherrennt, um irgendeinen Gegenstand zu finden. Dabei sollte man darauf achten, sich niemals an Kleinigkeiten aufzuhalten. Denn Brown findet nicht nur die wichtigen Gegenstände zum Vorankommen im Spiel oder auch Proviant, um die eigene Lebensanzeige aufrechtzuerhalten. Man findet auch Wäscheklammern, alte Socken, Schleifenbänder und jede Menge Glasmurmeln (ich hatte über 30 Stück). Der Hund hat auch eine Schallplatte, Parfümflaschen und eine Filmrolle gefunden, bei denen ich überhaupt nicht weiß, wozu die da sein sollen.
Wie auch immer, man sollte sich mit dem Suchen jedenfalls nicht unbedingt aufhalten.
Ein echtes Übel ist das Kampfsystem. Jennifer kann sich durchaus zur Wehr setzen, wesentlich besser als Fiona bei Haunting Ground. Dafür hilft Brown aber auch nicht viel und das Kämpfen ist mehr Glückssache als alles andere. Wenn man sich vielen Gegnern gegenüber sieht, ist es am besten, einfach wegzulaufen. Egal mit welcher Waffe, man trifft die Gegner kaum, zumindest nicht gezielt und vorausschaubar. Vorteilhaft ist natürlich, dass auch die Gegner oft an einem vorbeispringen.
Die meiste Zeit ist Jennifer damit beschäftigt, gekonnt mit einer Schaufel oder einer sonstigen Waffe durch ihre Gegner hindurchzuschlagen. Kein Wunder, sie schaut dabei noch nicht einmal hin, sondern macht grundsätzlich die Augen zu. Sie ist schwach und stirbt sehr schnell. Wenn sie getroffen wird, dann fällt sie hin und braucht erst einmal eine Stunde, um wieder aufzustehen. Währenddessen können die Gegner in aller Seelenruhe weiter auf sie einhacken. Und wenn ihre Lebensanzeige sehr weit gesunken ist, dann bewegt sie sich so schnell wie eine alte Oma, der man von hinten in die Kniekehlen latscht.
Was auch sehr schön ist: man kann die Kamera nicht überall selbstständig bewegen. Es gibt nur eine Möglichkeit, bei langen Gängen oder Räumen die Kamera von einer der beiden Richtungen einzustellen. Sozusagen eine duale Kameraschwenkung. In vielen freien weiten Räumen ist das aber überhaupt nicht möglich, zum Beispiel bei einigen Bosskämpfen. Das wäre an sich nicht schlimm, wenn die Kamera zumindest das gesamte Geschehen zeigen würde. Doch besonders beim ersten Kampf sieht man den Gegner die meiste Zeit gar nicht.
Darauf kommt es vielleicht nicht an, aber es mindert jedenfalls die Lust aufs Kämpfen und überhaupt Spielen. Für manche Leute wäre dieses Spiel deshalb eine Katastrophe, denn selbst ich rege mich darüber schon auf, auch wenn man sich daran gewöhnen kann. Wichtig ist eben, dass man immer viel ausweicht, hinter den Gegner kommt und nur dann zuschlägt, wenn man weiß, dass man es zwei, drei Mal auf einmal versuchen kann.
Ansonsten ist die Handlung wirklich der wichtigste Punkt in diesem Spiel, warum man es sich vielleicht doch zulegen sollte.

Dienstag, 24. November 2009

Aus dem Leben eines Taugenichts

Alles ist so fröhlich, um dich kümmert sich kein Mensch. Und so geht es mir überall und immer. Jeder hat sein Plätzchen auf der Erde ausgesteckt, hat seinen warmen Ofen, seine Tasse Kaffee, seine Frau, sein Glas Wein zu Abend und ist so recht zufrieden... Mir ist's nirgends recht. Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet.
Joseph von Eichendorff

Er ist Mensch, und er ist es so sehr, dass er überhaupt nichts außerdem sein will und kann: eben deshalb ist er der Taugenichts, denn man ist selbstverständlich ein Taugenichts, wenn man nichts weiter prästiert, als eben nur Mensch zu sein.
Thomas Mann

Montag, 9. November 2009

Aphorismen als Alibi

Es gibt das Gute nicht. Und wenn einer das Gute repräsentiert, dann lügt er.

Mein Gott und dein Gott kennen einander nicht. Von Gott zu sprechen ist eine Art, von sich selbst zu sprechen. Deshalb ist Moral ein anderes Wort für Lüge.
Weit draußen unterm schwarzgefleckten Himmel, aus dem Boden schießt das weißeste Eis. Barfuß und stolpernd weiter. Die Sohlen schreien. Es regnet glühende Nägel, denen nicht zu entkommen ist. Schwefelmeere brodeln mit weltfüllendem Gestank. In diesem Augenblick senkt sich der universale Arsch Gottes aus dem Weltraum und scheißt seine Schöpfung ins Exit. Für immer. Welch ein Glück, denkt man, während man in der göttlichen Scheiße erstickt.

Die Intellektuellen huren heute mit der Öffentlichkeit genauso wie vorher mit Gott. Wer das für einen Vorwurf hält, weiß nicht, was Gott war und was die Öffentlichkeit ist.

Manchmal beherrscht einen das Gefühl, ganz und gar in diesem Mediengewebe aufzugehen. Du bist nichts als ein Teil dieses Mitteilungszusammenhangs. Und es gibt außer diesem Zusammenhang nichts. Du wirst beatmet. Das heißt informiert. Du selber musst nicht mehr leben.

Das Gegenteil von Kritik ist nicht Lob, sondern Zustimmung. Das ist etwas anderes als Lob. Lob ist Überheblichkeit über den, den man lobt. Lob ist Anmaßung, wie Kritik Anmaßung ist. Machtausübung beides. Wenn man nicht zustimmen kann, soll man den Mund halten.

Vor allem anderen sind wir eine Gesellschaft von Verfolgten und Verfolgern. Und jeder ist beides, Verfolgter und Verfolger. Jeder hat eine deutlichere Erfahrung vom Verfolgtsein als davon, selber Verfolger zu sein. Wir merken deutlicher, was uns angetan wird, als was wir anderen antun.

Wir stoßen einander von den Planken eines sinkenden Schiffs.

Wie verständlich sind mir die Mörder. Schon wegen der Notwendigkeit, die sie zum Ausdruck bringen. Sie geben zu, dass sie nicht anders können.

Er dürstet nach Unmenschlichkeit, weil er sein will wie die, die ihn so gemacht haben.

Kein Verbrechen kommt ohne Utopie aus. Keine Utopie ohne Verbrechen.

Schriftsteller sind ununterbrochen (und ununterbrechbar) mit dem Notieren ihres Alibis beschäftigt.

Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus.
Martin Walser

Mittwoch, 28. Oktober 2009

Passierschein A 38

Autobahn von Bochum nach Dresden

"Entschuldigung, aber Sie können sich nicht exmatrikulieren, wenn Sie noch Leistungsnachweise erhalten wollen. Sie sind dann nicht mehr in unserem System erfasst."
"Aber die Dozenten haben doch noch Monate Zeit, um die Nachweise herauszugeben. Ohne Exmatrikulation kann ich mich in der neuen Uni nicht immatrikulieren."
"Da müssen Sie mal bei denen nachfragen."
Als ob ich das nicht schon mehrmals getan hätte, dachte ich genervt, wobei mir voller Unmut der nächste Tag einfiel. Dann hätte ich die Chance, persönlich zu der neuen Universität in Dresden zu gehen. Gleichzeitig läge Bochum dann allerdings längst hinter mir. Immer mehr stellte sich mir die Frage, wie das funktionieren sollte. Wie hätte ich es auch innerhalb eines knappen Monats schaffen sollen, alle meine Hausarbeiten zu schreiben, obwohl ich zu dieser Zeit Stunden brauchte, um hinter meinen Modulbescheinigungen herzurennen, obwohl einige Dozenten spurlos das Land verlassen zu haben schienen, obwohl ich mit dem bevorstehenden Umzug genug zu tun hatte, später ohne Internetzugang sein würde und ohne die Möglichkeit, Bibliotheken zu besuchen? Ein knapper Monat unter diesen Umständen. Eigentlich hätte ich drei Monate Zeit gehabt. Doch jedes vorige Wochenende war dafür draufgegangen, unzählige Bücher, DVDs und CDs einzupacken, die von unseren Verwandten die lange Strecke vom Sauerland bis nach Merseburg gebracht wurden, 350 km weit.
Meine Freundin und ich hatten mit Sicherheit nicht die Idee, das alles ohne Umzugsunternehmen zu schaffen. Aber der Vater meiner Freundin schien zuversichtlich und meinte, er hätte Beziehungen, um an einen Transporter heranzukommen, der schon reichen würde, damit wir uns nicht für zwei Tage ein teures Unternehmen leisten mussten. Damit begann die Odyssee.
Auf den ersten Blick sah es in der Wohnung so aus, als seien die meisten Dinge schon zusammengeräumt. Wir waren davon ausgegangen, dass die Bücher den größten Stress bedeuten würden, belaufend ungefähr auf 3000 Stück. Es war Donnerstagmorgen. Meine Freundin musste noch zur Arbeit und ich bemühte mich, Kiste um Kiste mit unseren Habseligkeiten zu füllen. In weiser Voraussicht, die sich später als nutzlos herausstellen sollte, hatte ich bereits eine Tasche mit allen wichtigen Dingen gepackt, die ich in den kommenden Tagen der Heimatlosigkeit benötigen würde. Aus diesem Grund hatten wir eine ganze Ladung Wäsche gewaschen, die dummerweise noch immer nicht trocken war. Beim Einräumen war viel Müll angefallen, da wir in den letzten Wochen Zeitungen und Tüten gesammelt hatten, um die Bücher und den ganzen Rest sicher zu verstauen. Noch dazu war ich überrascht, wie viele Glasflaschen sich plötzlich angesammelt hatten. Leere Alkoholflaschen von den letzten Gelagen. Aber irritierenderweise auch ein kompletter Bierkasten (natürlich leer), den der Freund meiner Mutter, Wolfgang, im Keller "vergessen" hatte. Direkt neben einer Werkzeugtasche von ihm, die er jedes Mal aus Faulheit hatte stehen lassen, wenn er nach einem Besuch wieder abfuhr, bei der er uns jedoch stets vorhielt, dass sie sich noch immer in unserem Besitz befinden würde. Da meine Freundin jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fuhr, musste ich das alles zu Fuß erledigen. Dazu muss gesagt werden, dass unser Haus auf einem Berg lag. Im Sauerland gibt es bekanntermaßen viele Berge. Dagegen war unsere Erhebung sicher nur ein Hügel. Ein solcher Hügel kann sich allerdings erstaunlich schnell in den Kilimandscharo verwandeln, wenn man ihn ein paar Mal runter und wieder hoch gelaufen ist, während man mit mehreren Glasflaschen, wahlweise einem Bierkasten beladen ist, um zum Glascontainer und zur Leergutannahme des Einkaufszentrums zu gelangen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diesen Weg gehen musste, bis alles weggeschafft war. Zur weiteren Information, wir wohnten im dritten Stock, selbstverständlich ohne Aufzug.
Danach machte ich mich so schnell wie möglich daran, die Bettkästen unserer Polsterliegen auszuräumen. Gegen Mittag sollte der Vater meiner Freundin mit dem Transporter kommen. Da wir sowieso neue Liegen kaufen wollten, mussten die alten erst einmal weggebracht werden. Ich hatte in den Tagen zuvor mit der Caritas telefoniert. Die wollten unsere Betten allerdings nicht haben, wie erwartet. Sie hätten angeblich keine Lagerkapazitäten für solcherlei Möbelstücke. Ich erinnerte mich daran, dass wir einem solchen Umstand zwei Jahre zuvor unsere Küche verdankten. Eine komplette Einbauküche von verstorbenen Verwandten meinerseits, die von der Caritas nicht angenommen wurde, da sie deren Zustand nicht den hilfsbedürftigen Armen zumuten könnten. Für meine Freundin und mich war sie komischerweise noch gut genug, obwohl wir uns nicht als "hilfsbedürftig" bezeichnen würden. Wenn man sein Geld vom Staat bekommt, hat man womöglich andere, das heißt höhere Ansprüche. Glücklicherweise hatte ich kurz vor dem Umzug von der Neuen Arbeit in Arnsberg gehört. Die hatten zwar keine Zeit, um die Liegen abzuholen, versicherten uns allerdings, dass sie diese auf jeden Fall annehmen würden. Ich bangte noch immer, während ich in aller Eile die Wäsche abnahm, gerade rechtzeitig, als der Vater meiner Freundin bereits klingelte. Mit der Küche war ich noch immer nicht fertig, was leider nicht meinen Erwartungen entsprochen hatte. Dagegen hatte ich allerdings erwartet, mehr Schwierigkeiten mit dem Heruntertragen der Betten zu haben. Desweiteren stellte sich meine Angst als unbegründet heraus, dass die Neue Arbeit die Polsterliegen vielleicht doch nicht haben wollen würde. Im Gegensatz zur Caritas waren die jedoch hellauf begeistert und nahmen unsere Betten mit Kusshand. Wir hätten keinerlei Zeit mehr gehabt, um für etwaige Entsorgungen einen Termin zu vereinbaren, auch die natürlich nur gegen ein entsprechendes Entgelt.
Gen Nachmittag waren schließlich auch meine Mutter und deren Freund anwesend, meine Freundin, sowie eine ihrer Arbeitskolleginnen und deren Freund. Ich hatte die Küche aufgegeben und räumte den Rest aus dem Arbeitszimmer zusammen, unsere gesamten Unterlagen. Im Treppenhaus hatte sich eine Kette gebildet. Selbst unser Nachbar half uns beim Tragen, wobei uns beispiels- und üblicherweise die Waschmaschine die größten Schwierigkeiten bereitete. Dabei fiel mir erst einmal auf, wie viel Elektronik wir besaßen: zwei Fernseher, zwei DVD-Player, sogar noch einen Videorekorder, zwei Musikanlagen - am meisten hatte ich mir um meinen Schallplattenspieler und um die Playstation 2 Sorgen gemacht. Eine Playstation 1 besaßen wir auch noch, die zweite Playstation 2 hatte ich schon zuvor einer Freundin auf "unbestimmte Zeit ausgeliehen".
Mir war bereits vorher aufgefallen, wie klein der Transporter ausfiel, in welchem der Vater meiner Freundin vorgefahren war. Doch noch hegte ich Hoffnung... bis die letzte Kleinigkeit im Wagen verstaut war und wir feststellen mussten, dass in der Wohnung dem Augenschein nach noch alles stand. Das bedeutete, dass der Transporter vorerst die 350 km nach Merseburg gefahren und entladen werden musste, um dann wieder 350 km zurück ins Sauerland für die nächste Beladung zu fahren. Der Vater meiner Freundin setzte sich mit einem Lächeln und ohne ein Wort in den Transporter und sollte erst am nächsten Tag wieder auftauchen.
Er hatte für die Nacht zwei Zimmer in einem Etaphotel gebucht. Bis 22 Uhr musste man eingecheckt haben, sonst bekam man keinen Code für die Türen und die Buchung verfiel trotz Bezahlung. Zwar war zu diesem Zeitpunkt noch genügend Spielraum zum Einchecken, doch meine Mutter hielt meine Freundin und mich dazu an, erst einmal das zu erledigen und dann zum weiteren Einräumen zurückzukommen. Eine bescheuerte und sprittverschwendende Idee, dachte ich anfangs. Bis sich herausstellte, dass das angeblich gebuchte Etaphotel im Osten von Dortmund gar nicht unseren Namen vermerkt hatte. Der Vater meiner Freundin hatte versehentlich einen Fehler gemacht und ein Hotel im Westen von Dortmund, kurz vor Bochum gebucht. Wir standen an der Rezeption, ich schaute verstört auf die Uhr. Und sagte kein Wort, während ich mich wieder ins Auto setzte und losfuhr. Das würden wir schon schaffen, es wäre nicht weit, versicherte ich meiner Freundin. Dabei wusste ich ganz genau, wo das Etaphotel liegen musste und dass die Strecke alles andere als zügig erreichbar sein würde. Zum Glück gehörte es noch nie zu meinen Stärken, mich an Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten.
Fünf Minuten vor 22 Uhr kamen wir an. Und fuhren vom Zentrum des Ruhrgebiets sofort wieder zurück ins hochsauerländische Zentrum, wo wir meine aufgelöste Mutter antrafen. Sie hatte voller Grauen bemerkt, dass in der Küche noch fast alle Schränke voll waren, und sich so schnell wie möglich ans Ausräumen gemacht. Die gesamte Zeit, die wir für das Zurücklegen unseres Weges benötigt hatten, hatte sie mit dem Anhäufen von weiteren Kisten verbracht. In der Küche stand nur noch das Lebensnotwendigste: die Kaffeemaschine.
Komischerweise fanden wir an diesem Abend vor Erschöpfung jede Kleinigkeit sehr lustig. Weit nach Mitternacht kamen wir erst im Etaphotel an und wussten, dass wir am Morgen sehr früh aufstehen mussten. Die Wohnung hatten wir im Chaos hinterlassen. Am Nachmittag des nächsten Tages sollte die Wohnungsübergabe sein...

Dienstag, 20. Oktober 2009

Historiographie im Zirkel philologischer Zuschreibungen

Vor dem frühen neunzehnten Jahrhundert wurde die Historiographie als Zweig der Redekunst und damit als passender Gegenstand für die Theorie der Rhetorik betrachtet. Im Gefolge der Bemühung, historische Studien wissenschaftlicher zu gestalten, wurde jedoch die Ehe der Historiographie mit der Rhetorik im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geschieden. Der zweifache Angriff auf die Rhetorik, zum einen seitens der romantischen Poetik, und zum anderen von Seiten des Positivismus, führte dazu, dass die Rhetorik von der westlichen Hochkultur in Acht und Bann geschlagen wurde. "Literatur" als Praxis des "Schreibens" nahm nun den Platz ein, den vormals die Redekunst innehatte, und die "Philologie" verdrängte die Rhetorik als die allgemeine Wissenschaft der Sprache. Das theoretische Problem der Geschichtsschreibung wurde von da an im Rahmen der Frage nach der Beziehung von Geschichte und Literatur erörtert. Da die Literatur aber gewöhnlich als das geheimnisvolle Ergebnis "dichterischer Kreativität" galt, war das Problem unlösbar. Hinsichtlich des Verhältnisses der Geschichte zur Philologie wurde allgemein anerkannt, dass die Philologie nichts anderes sei als die auf die Untersuchung sprachlicher Phänomene angewandte "historische Methode". Nun wurde aber die "historische Methode" ihrerseits einfach als die auf das Studium historischer (dokumentarischer) Zeugnisse angewandte "philologische Methode" betrachtet, womit sich das Methodenproblem in einem ausweglosen tautologischen Zirkel verfing.
Hayden White

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Wenn ein Mensch lebt

Vorlage für den Einzelteil
Wie man sich hinterm Sarg anstellt

Warum soll man keinen Menschen töten?
Weil immer jemand deswegen weint.


Ich erinnerte mich daran, als meine Schwester und ich auf irgendeiner Beerdigung waren, von der ich jetzt nicht mehr weiß, wer eigentlich gestorben war, weil solche Veranstaltungen immer gleich ablaufen. Jedenfalls mussten meine Schwester und ich wegen irgendeiner Sache lachen, sodass wir es kaum zu unterdrücken vermochten, während wir von einigen Seiten böse Blicke ernteten. So ist es also, wenn man auf einer Beerdigung lacht, dachte ich damals.
Ich erinnere mich daran, dass bei irgendeiner Beerdigung, vielleicht war es dieselbe, sich ein paar Leute darüber aufregten, dass ein Bekannter von mir in Jeanshosen aufgetaucht war.
Und ich erinnere mich an das abgestumpfte Lächeln, als meine Mutter irgendwann sagte: "Das passiert halt."
Viel früher dachte ich noch nicht, dass so etwas "halt passiert". Aber da nahm ich auch noch an, man müsste auf Beerdigungen weinen und still sein. Jetzt weiß ich, dass man es auf unterschiedliche Weise hinter sich bringen kann, auch durch Lachen und Langeweile. Das passiert halt. Man gewöhnt sich an alles.
Mit der Zeit habe ich mich nur gewundert, was bei solchen Ereignissen alles erzählt wird. Von wem spricht der Typ da vorn? Das habe ich mich ständig gefragt. Eigentlich sollte man sich jedes Mal einen anderen aussuchen, der die Rede hält, sonst hört man stets dasselbe Zeug. Niemand sagt so etwas wie: "Wurde auch Zeit" oder "Na endlich".

Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt
Sagt die Welt, dass er zu früh geht
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt
Sagt die Welt, es ist Zeit...
...dass er geht

(Puhdys)

Der Tod macht jeden Menschen zum Engel, zum fehlerlosen Nichts.
Jedes Mal mache ich mir einen Spaß daraus, mich von meinem eigenen Verhalten überraschen zu lassen, ob meine Hand ein wenig Erde ins Grab wirft oder ein paar Blumenblätter oder beides, was meist vorkommt, oder einfach gar nichts, man stelle sich das mal vor ...

Freitag, 9. Oktober 2009

Oh Captain, mein Captain!



Oh Captain, mein Captain
Die schwere Fahrt ist aus
Das Schiff hat jedem Sturm getrotzt
Nun kehren wir stolz nach Haus
Der Hafen grüßt mit Glockenschall
Und tausend Freudenschreien
Vor aller Augen rauschen wir auf sichrem Kiel herein
 
Aber Herz, ach Herz, ach Tropfen blutig rot
Wo auf dem Deck mein Captain liegt
Gefallen, kalt und tot
 
Oh Captain, mein Captain
Steh auf und hör den Schall
Steh auf, dir gilt der Flaggengruß
Dir gilt das Jauchzen all
Die Sträuße dir, die Kränze dir
Und weit entlang am Strand
Das Menschenmeer, Gesichtermeer
Dir freudig zugewandt
 
Hier Captain, liebster Vater
Hier ist mein Arm als Halt
Es ist nur Traum, dass du hier liegst
Gefallen, tot und kalt
 
Mein Captain gibt nicht Antwort
Seine Lippen sind bleich und still
Mein Vater fühlt nicht meinen Arm
Hat nicht mehr Kraft noch Will
Das Schiff liegt heil vor Anker nun
Die Reise ist nun aus
Von schwerer Fahrt, das Siegerschiff
Kam vom Triumph nach Haus
 
Jauchzt, ihr Gestade, Glocken dröhnt
Ich aber knie in Not
Wo auf dem Deck mein Captain liegt
Gefallen, kalt und tot


Andere Übersetzung:

O Käpt’n, mein Käpt’n, zu End’ ist unsre Reis’
wir haben jedes Riff umschifft, der Sieg war unser Preis.
Am Kai entlang der Glockenklang, der Menge Lustgespinster;
das Auge folgt dem festen Kiel, der Barke, wild und finster.
 
O Herz, o mein Herze!
O Tropfen feucht und rot,
wo auf dem Deck mein Käpt’n liegt,
gefallen, kalt und tot.
 
Erhebe dich, mein Käpt’n und hör den Glockenton!
Steh auf - dir ist die Flagg’ gehißt, dich grüßt das Jagdhorn schon.
Mit Bändern, Blumen tausendfach der Hafen ist geschmückt
für dich allein. Es ruft nach dir die Menge hoch beglückt.
 
O Käpt’n, mein Vater!
Mein Arm, dem Haupt zum Halt.
Im Traum nur liegst du auf dem Deck,
gefallen, tot und kalt.
 
Mein Vater gibt nicht Antwort, sein Mund ist bleich und still.
Mein Vater spürt nicht meinen Arm, hat weder Puls noch Will.
Das Schiff, es geht vor Anker. Zu End’ ist seine Reis’,
zurück gekehrt nach wilder Fahrt - der Sieg, das war der Preis.
 
Ihr Ufer, jauchzt! Ihr Glocken, klingt!
Ich aber geh in Not
dahin, wo nun mein Käpt’n liegt,
gefallen, kalt und tot.


Original:

O Captain my Captain! our fearful trip is done;
The ship has weather’d every rack, the prize we sought is won;
The port is near, the bells I hear, the people all exulting,
While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring:
 
But O heart! heart! heart!
O the bleeding drops of red,
Where on the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
 
O Captain! my Captain! rise up and hear the bells;
Rise up - for you the flag is flung - for you the bugle trills;
For you bouquets and ribbon’d wreaths - for you the shores a-crowding;
For you they call, the swaying mass, their eager faces turning;
Here Captain! dear father!
This arm beneath your head;
It is some dream that on the deck,
You’ve fallen cold and dead.
 
My Captain does not answer, his lips are pale and still;
My father does not feel my arm, he has no pulse nor will;
The ship is anchor’d safe and sound, its voyage closed and done;
From fearful trip, the victor ship, comes in with object won;
Exult, O shores, and ring, O bells!
But I, with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
Walt Whitman

Dienstag, 6. Oktober 2009

Kants Kontamination von Prädikation und Synthesis

Im "Spiegel der Natur" stellt sich Richard Rorty die Frage, wie es überhaupt zu einer derartigen philosophischen Richtung wie der Erkenntnistheorie kommen konnte, die nach Descartes‘ Meditationen das Mentale als inneren Raum erfunden hat. Es wurde die Meinung postuliert, allein der Mensch hätte primären Zugang zu seinen mentalen Zuständen und nur aus dem eigenen Geist heraus sei es möglich, Erkenntnis zu erlangen. Trotz dieser nicht empirisch nachweisbaren Theorie begann sich die Philosophie als Wissenschaft zu verstehen und wurde unter Immanuel Kant sogar zum Fundament und Tribunal der Wissenschaft.
Doch was Kant mit seinen Anschauungen zu erreichen versucht, geht in einer Vermengung unterschiedlicher Begrifflichkeiten und Neudefinitionen unter. Soll über ein Erkenntnisproblem tatsächlich eine Theorie möglich sein, können wir nach Rortys These bloß von einem solchen Problem sprechen, wenn wir das Erkennen als eine Ansammlung von Darstellungen betrachten. Nur das bleibt für die Philosophie übrig, nachdem sich die Einzelwissenschaften so weit ausdifferenziert haben, dass sie unlängst in der Lage sind, alle Themengebiete abzudecken.
Darum ist zu klären, wie jene Kontamination aussieht, die Kant in seiner eigenen Rechtfertigungstheorie von John Locke aufnahm und fortführte. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gebieten der Epistemologie, nämlich der Erkenntnis und der Erfahrung. Wie geht die moderne Philosophie sprachanalytisch mit diesen Themen um und welche Rolle spielt das für die Gesamtkritik Rortys?

Erkenntnisgewinn
Richard Rorty meint, die Wahrheit eines Satzes bestünde bei der Kantischen Philosophie darin, die beiden voneinander verschiedenen Vorstellungen von Anschauungen und Begriffen aufeinander zu beziehen.  In der "Kritik der reinen Vernunft" führt Kant diesen Gedanken so aus, dass unser Denken einen unmittelbaren Zugriff auf Anschauungen hat, um Erkenntnis zu erlangen. Durch die Sinnlichkeit, also die Fähigkeit zur Aufnahme äußerer Eindrücke durch die Sinne, erhalten wir Vorstellungen von diesen Anschauungen. Nach der Verarbeitung der Eindrücke entspringen unserem Verstand Begriffe. Alles Denken muss sich also auf Sinnlichkeit und Anschauungen beziehen, weil uns anders kein Gegenstand gegeben sein kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit ist die Empfindung. Anschauungen, die sich auf den Gegenstand durch Empfindungen beziehen, sind empirisch und der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.
Die vorkantische Philosophie stellte sich als Kampf zwischen Rationalisten und Empiristen dar. Erstere wollten jegliche Empfindungen auf bloße Begriffe reduzieren, während die Empiristen meinten, die Erkenntnis sei aus unserer Erfahrung gegeben und deshalb völlig begriffsfrei. Nach Rortys Meinung hätte man die Problematik anders beschreiben müssen, indem deutlich gemacht worden wäre, dass die Rationalisten nur Propositionen über sekundäre Qualitäten durch anders geartete Propositionen zu ersetzen suchten, die eine gleiche Funktion inne haben und dennoch mit Gewissheit zutreffen sollten.  Als Rückgriff auf Locke werden primäre Qualitäten dadurch charakterisiert, dass sie außerhalb des Geistes in undenkbaren Substanzen bestehen. Dagegen sind die sekundären Qualitäten sinnlich und existieren im Geist unabhängig vom Subjekt, somit jedoch abhängig von den primären Qualitäten, durch die sie veranlasst werden. Der Mensch kann nur durch seine Wahrnehmung auf die sekundären Qualitäten zugreifen, während ihm der direkte Zugang zu den primären Qualitäten verwehrt ist.  Diese Idee vergleicht Rorty mit dem Bild eines Spiegels, auf dem die äußere Natur in unserem Inneren aufgenommen und reflektiert wird. Nur so meint der Mensch über die Außenwelt Kenntnisse erlangen zu können und ist gleichzeitig davon überzeugt, aus erster Hand Zugang auf den inneren Spiegel zu haben, quasi als Schiedsrichter im Heimspiel über die eigene Erkenntnis.
Locke stellte bereits die Weichen für jenen Fehlschluss, der es scheinbar ermöglichen sollte, Fragen der Geltung mit der Genese zu beantworten. Dabei handelt es sich logisch um zwei voneinander völlig verschiedene Probleme, wenn ich mich auf der einen Seite frage, wie ich zu meiner Auffassung gekommen bin, und auf der anderen Seite wissen will, ob diese Auffassung wahr ist.
Nach der Kopernikanischen Wende Kants leiten sich Gegenstände von unserer Erkenntnis ab. Wir geben den Gegenständen unsere Begriffe, nicht andersherum. Denn sollten sich die Anschauungen nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten, dann könnte man Kant zufolge a priori nichts von ihnen wissen. Wenn sich aber das Objekt, das wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens richtet, ist diese Möglichkeit durchaus denkbar.
In diesem Zusammenhang schuf Kant in seiner Erkenntnistheorie einen umfassenden Begriffsrahmen, der die moderne Philosophie prägte. Es ging fortan um die Beziehung zwischen Universalien und dem Einzelnen, also dem Schluss vom Äußeren auf das Innere. Daraus ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt Rortys. Es geschieht nämlich eine Vermengung von Prinzipien und Urteilen. Kant selbst spricht zwar von Begriffen, bezieht sich jedoch nicht auf Sätze oder Propositionen, sondern auf innere Vorstellungen.

Erfahrung
Ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie ist die Erfahrung, die in der Philosophie eine Bedeutung unabhängig von ihrer alltäglichen Verwendung erhalten hat. Um die Epistemologie zu verstehen muss man mittlerweile einen ganzen Katalog an Philosophen gelesen haben. Zwar bleiben die verwendeten Begrifflichkeiten gleich, sie werden jedoch von jedem Erkenntnistheoretiker mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen. Somit besteht die Erfahrung nur noch als „philosophischer Kunstausdruck“.
Descartes definierte als erster in einer dualistischen Vorstellung die Res cogitans als das denkende Ding, das der Mensch darstellt.  Das Mentale wurde somit zur eigenen abgetrennten Dimension. Im Zuge dessen erschuf John Locke eine Theorie der Erkenntnis, die auf der Analyse der mentalen Prozesse beruhte. Er griff den cartesianischen Dualismus auf, indem er das Erfahren in ideas of reflexion (das Denken) und ideas of sensation (die Wahrnehmung) unterteilte. Für Kant hingegen dient die Erfahrung als „Gegenstand und Methode der Erkenntnis“. In diesem Sinne stellt sie den „denkgesetzlichen Zusammenhang aller Funktionen der Erkenntnis“ dar.  Kant greift jedoch die epistemologischen Punkte Lockes auf, die Rorty im Kapitel über die Kontamination von Erklärung und Rechtfertigung kritisierte. Wenn man auf diese Weise denken und erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen will, muss man sich auf die komplexen Annahmen und Begrifflichkeiten einlassen.
Unser Denken ist nur insofern „philosophisch, wenn es, wie das Kantische, nach Ursachen von, also gerade nicht nur nach Gründen für empirische Wissensansprüche sucht“.  Da Kant demnach nicht bloß Rechtfertigungen herausstellt, die uns zum Handeln bringen, betrachtet Rorty die Theorie Kants ungewöhnlicherweise als eine kausale Theorie. Im Rationalismus wird die Ursache notwendig mit der Wirkung verknüpft, doch für Kant stellt Kausalität (ähnlich wie bei David Hume) kein logisches Prinzip dar. Kant würde seine eigene Philosophie also nicht wie bei naturwissenschaftlichen Lehren als kausale Theorie auffassen. Diese Annahme Rortys führt zu einem Widerspruch. Nähme man in der Kantischen Philosophie Kausalität an, wäre die Notwendigkeit der Vernunft und des vernünftigen Handelns nicht mehr gegeben. Es geht schließlich nicht um die Rechtfertigung der Urteile, sondern um die Bildung und die Möglichkeiten unserer Vernunft.

Sprachspiel der modernen Philosophie
Die Kantische Philosophie besteht aus einer Vielzahl von Begriffen, die man verstehen muss. Aber gerade die Unterscheidungen und Gleichsetzungen jener Begriffe können zu der genannten Kontamination führen, sodass die Philosophie, um es mit Wittgensteins Worten zu beschreiben, ihr eigenes Sprachspiel besitzt, welches Außenstehenden unzugänglich bleibt. All jene Definitionen dienen bei Kant nur zur Begründung seiner Theorie und besitzen davon losgelöst keinen sinnvollen Inhalt. Grundsätzlich funktioniert jede erkenntnistheoretische Unterscheidung nur im Sprachspiel der Philosophie.
Philosophisches Denken setzt deshalb eine Unterscheidung von Anschauungen und Begriffen, Sinnlichkeit und Verstand bereits voraus und lässt sich auf Lockes Kontamination von Kausalität und Rechtfertigung ein.  Wenn Locke meint, dass nichts in unserem Intellekt sein kann, wenn wir es nicht vorher mit den Sinnen wahrgenommen haben, schließt sich Kant dieser Metaphorik an.
Um auf die von Rorty genannte Kontamination einzugehen, werden im Folgenden zuerst die Bezeichnungen geklärt. Die Prädikation, die ganz allgemein auch als Teil des Sprechaktes bezeichnet werden kann, stellt eine Handlung oder auch eine Aussage dar, bei der einem Gegenstand eine Eigenschaft oder Relation zugesprochen wird. Sie hat die Funktion, sprachliche Unterscheidungen einzuführen. In der Synthesis wird eine Vielzahl von Sinneseindrücken zu einer Vorstellungs- oder Begriffseinheit zusammengeschlossen. Explizit auf Kant bezogen bezeichnet das eine Verbindung der in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigkeit zu einer Einheit des Gegenstandes. In ihrer allgemeinsten Bedeutung definiert Kant Synthesis als „die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen“.  Synthetische Urteile erweitern im Gegensatz zu den analytischen Urteilen die Erkenntnis, da das Prädikat nicht im Subjekt enthalten ist. Diese Synthesis unterscheidet sich von Humes Auffassung der Ideen. Hume trennt zwischen Empfindung und Erinnern. Aller Stoff des Geistes ist aus dem inneren und äußeren Gefühl abgeleitet und die Gedanken lösen sich bei der Zergliederung in Vorstellungen auf, die den Empfindungen nachgebildet sind. Dagegen ist die Synthesis bei Kant eine Relation, die nur zwischen allgemeinen und einfachen Ideen bestehen kann. Rorty sieht diese Theorie durch die beiden Voraussetzungen gestützt, dass erstens Mannigfaltigkeit notwendig gegeben ist und dass zweitens eine Einheit daraus hergestellt wird.  Nach Kant könnten Humes Anschauungen nicht zu Bewusstsein gebracht werden, wenn sie nicht durch Begriffe synthetisiert werden würden. Wir können Bewusstsein nur von Dingen haben, die durch unser eigenes verbindendes Denken konstituiert wurden.
Rorty ist der Meinung, Kant hätte anstatt seiner irreführenden Gleichsetzung des einzelnen Urteils mit der sinnlichen Gegebenheit „Erkenntnis als eine Relation zwischen Personen und Propositionen“  beschreiben sollen. Es liegt also eine Verwechslung von Propositionen und Begriffen vor. Dahingehend folgt Rorty der Ansicht des späten Wittgensteins, dass Begriffe eben nicht alle gemeinten Inhalte ausdrücken können.
Wenn man sich keine Grundlage durch die Lektüre der wichtigsten erkenntnistheoretischen Philosophen geschaffen hat, stellen sich berechtigte Fragen ein. Woher nehmen wir dieses Mannigfaltige, das uns Kant als Voraussetzung vorstellt? Woher wissen wir, dass es mehr als eine solche Anschauung gibt? Gäbe es nur eine einzige, wäre so etwas wie Synthesis gar nicht nötig. Anschauungen und Begriffe sind in diesem Zusammenhang nur der „Kontextdefinition fähig“,  um die Theorie Kants zu stützen. Die beiden genannten Voraussetzungen sind nur dann als Rechtfertigung zulässig, wenn wir tatsächlich auf diese Weise Erkenntnis durch synthetische Urteile a priori erlangen können. Legt man die Bedingungen, die Kant postuliert, im Sinne Rortys aus, verliert unser Zugriff auf den Spiegel der Natur schlagartig an Relevanz. Das Bewusstsein als Forschungsgebiet im inneren Raum wird abgeschafft.

Fazit
In der dualistischen Vorstellung der Erkenntnistheorie stehen sich zumeist zwei nach Rorty unvereinbare Positionen gegenüber. Auf der einen Seite befindet sich die Genese als Ursprung und Ausgangspunkt, auf der anderen Seite die Geltung als Wahrheit unabhängig von der Wirklichkeit, mit Kants Worten also eine Relation zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Der Kantische Transzendentalismus kann im Sinne einer Geltungstheorie interpretiert werden, da es ihm um die Rechtfertigung und Begründung der menschlichen Erkenntnis geht. Damit Geltungsansprüche legitimiert werden können, müssen vorher fundamentale Bedingungen erfüllt sein. Das will Kant durch seine transzendentale Deduktion erreichen, indem Begriffe a priori festgelegt werden, die somit objektive Gültigkeit besitzen und allgemeine und notwendige Erkenntnis möglich machen. Im Neukantianismus wird der Geltung dementsprechend das Sein gegenübergestellt. Doch ist es ein Fehlschluss, von der Entdeckung automatisch auf die Begründung zu schließen. Die Erklärung auf der einen Seite stellt einen Schluss vom Gegenstand auf die Person dar, wohingegen die Rechtfertigung den Schluss auf eine Person nur durch die Proposition zulässt, also jenen gedanklichen Inhalt, der durch einen Satz ausgedrückt wird. Wenn wir nach synthetischen Urteilen a priori suchen, dann besitzen wir am Ende keinen privilegierten Zugang mehr zur Erkenntnis.
Nach Rortys Hauptthese liegt der Fehler der Erkenntnistheorie in der Verknüpfung des Mentalen mit dem Fundamentalen. Im Gegensatz zu der Idee des Bewusstseins, die Descartes, Locke und Kant gemeinsam war, vertritt Rorty in vielen Belangen einen holistischen Materialismus. Dabei orientiert er sich größtenteils an Heidegger, Wittgenstein und Dewey. Die vorherigen Annahmen der Philosophie werden demnach nicht widerlegt, sondern verabschiedet.

Freitag, 25. September 2009

Selbstmörder

Es ist falsch, wenn man nur jene Menschen Selbstmörder nennt, welche sich wirklich umbringen. Unter diesen sind sogar viele, die nur gewissermaßen aus Zufall zum Selbstmörder werden, zu deren Wesen das Selbstmördertum nicht notwendig gehört. Unter den Menschen ohne Persönlichkeit, ohne starke Prägung, ohne starkes Schicksal, unter den Dutzend- und Herdenmenschen sind manche, die durch Selbstmord umkommen, ohne darum in ihrer ganzen Signatur und Prägung dem Typus der Selbstmörder anzugehören, während wiederum von jenen, welche dem Wesen nach zu den Selbstmördern zählen, sehr viele, vielleicht die meisten, niemals tatsächlich Hand an sich legen. Der "Selbstmörder" braucht nicht notwendig in einem besonders starken Verhältnis zum Tode zu leben - dies kann man tun, auch ohne Selbstmörder zu sein. Aber dem Selbstmörder ist es eigentümlich, dass er sein Ich, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht, als einen besonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, dass er sich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stünde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrer Schicksalslinie dadurch gekennzeichnet, dass der Selbstmord für sie die wahrscheinlichste Todesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Voraussetzung dieser Stimmung, welche fast immer schon in früher Jugend sichtbar wird und diese Menschen ihr Leben lang begleitet, ist nicht etwa eine besonders schwache Lebenskraft, man findet im Gegenteil unter den "Selbstmördern" außerordentlich zähe, begehrliche und auch kühne Naturen. Aber so wie es Naturen gibt, die bei der kleinsten Erkrankung zu Fieber neigen, so neigen diese Naturen, die wir "Selbstmörder" heißen und die stets sehr empfindlich und sensibel sind, bei der kleinsten Erschütterung dazu, sich intensiv der Vorstellung des Selbstmordes hinzugeben.
Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werden muss), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinenden Schwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Er macht aus der Vorstellung, dass ihm zu jeder Stunde der Weg in den Tod offenstehe, nicht bloß ein jugendlich-melancholisches Phantasiespiel, sondern baut sich aus ebendiesem Gedanken einen Trost und eine Stütze. Zwar ruft in ihm jede Erschütterung, jeder Schmerz, jede üble Lebenslage sofort den Wunsch wach, sich durch den Tod zu entziehen, allmählich aber schuf er sich aus dieser Neigung gerade eine dem Leben dienliche Philosophie. Die Vertrautheit mit dem Gedanken, dass jener Notausgang beständig offenstehe, gibt ihm Kraft, macht ihn neugierig auf das Auskosten dieser Schmerzen und üblen Zuständen, und wenn es ihm recht elend geht, kann er zuweilen mit grimmiger Freude, einer Art Schadenfreude, empfinden:
"Ich bin doch neugierig zu sehen, wie viel eigentlich ein Mensch auszuhalten vermag. Ist die Grenze des noch Erträglichen erreicht, dann brauche ich ja bloß die Tür zu öffnen und bin entronnen."
Es gibt sehr viele Selbstmörder, denen aus diesem Gedanken ungewöhnliche Kräfte kommen.
Der Steppenwolf von Hermann Hesse

Montag, 14. September 2009

Halb bin ich du

Vorlage für den Einzelteil
UnterHalb

Wenn du in den Spiegel siehst, dann erkennst du mich nicht, weil ich es nicht will. Dann verstecke ich mich im Glas hinter einer namenlosen Maske und warte. Das Leben ist ein ständiges Warten. Ein Warten auf Godot? Ein Warten darauf, dass die Tür zum Gerichtssaal geschlossen wird und man nie hindurchgegangen ist, obgleich jene Tür für einen bestimmt war? Nur ich sitze hier und schaue dir zu, solange du mich nicht beachtest. Du erkennst, wer ich bin, wenn ich es will. Dann lasse ich dich in einer ruhigen Sekunde innehalten und zwinge dich, mir in die Augen zu schauen. Was siehst du? Siehst du mich? Halb dich, halb nichts.
Während du erwachsen wurdest, bin ich das Kind einer Mutter, die lediglich eine Frau, allenfalls eine Freundin war, und das Kind vieler Männer, die nie meine Väter waren. Meine halbe Mutter nannte ich stets beim Namen, während du ihr noch einen Titel gegeben hast. Halb verschämt, halb mutig, halb lügend, Halbkind. Doch ähnlich wurdest du ihr dennoch, auch wenn du stets mehr wie dein Vater sein wolltest. Mehr wie er, dem Individuum in dir, dem Unbekannten in ihm. Ein falscher Name an dich adressiert und du wusstest, dass nicht er es war, den du sahst, sondern nur eine weitere Maske der Pest und Krankheit, dem Geschwür in seinem Kopf, das ihn im Gegensatz zu vielen anderen Menschen tatsächlich und in der Wirklichkeit zerfressen hat. Darum bin ich dein Geschwür hinter dem Spiegelglas.
Halbkind, Halbgott, um einen tanzenden Stern für die Nachwelt zu gebären. So bist du einer der letzten Menschen. Ich, zu narzisstisch im Selbsthass verloren. Du, zu gelangweilt von dir selbst, um dich mit dir zu beschäftigen, richtest du dein Augenmerk auf die Menschen um dich herum, halb Mensch, halb Wolf. Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Leben Wölfe in der Steppe allein? Sind Halbkinder nur Töchter und Söhne von Sonne und Mond? Ich warte hinter dem Spiegel im Wunderland und höre das Kratzen in deinem Inneren. Etwas hat einen Kokon gesponnen und sehnt den Tag der Vereinigung herbei. Ich bin es nicht und doch sind das Es und Ich du. Wir wachsen in dir heran. Hast du uns vermisst? Du glaubst noch immer, du seist ein Geldstück, eine der Münzen auf deinen Augen. Du glaubst, du hättest zwei Seiten, doch jeder Mensch, ob Halbkind, Halbmensch, Halbgott, trägt viele Seiten in sich. Nicht nur zwei, nicht nur drei Instanzen. Sind wir Möbiusschleifen, die nach Ergänzung suchen, die wir ein Leben lang bei uns behalten, ohne dass sie ein Teil von uns sein kann? Ein Teil von dir, ein Teil von mir. Ein Teil vom Nichts der Unendlichkeit. In der Rasse geteilt, halb weiblich, halb männlich, betrachte ich die Frau in dir und möchte gern ein Mann sein. Du bist zu sehr ich, wir sind zu viel von uns, ich bin zu viel in mir selbst. So bin ich fast sie, fast er, weil ich nicht genug geben kann und doch zu viel zu geben habe. Du bist Jill und ich bin Jack und das halbe Blut von Sonne und Mond kocht in meinen Adern.
Name ist Schall und Rauch, doch manchmal heiße ich auch Frank oder Harvey. Dann habe ich lange Hasenohren und spitze Zähne, bin manchmal weiß und manchmal schwarz, trage in seltenen Fällen sogar eine Uhr bei mir. Ich bin dein imaginärer Freund, mit dem du reden kannst, wenn niemand sonst dir zuhört. Ich bin Jack im Versteck, aber auch Jekyll und Hyde, bin das tausendfach Gute und Böse in dir, der Voyeur deiner Kindertage. Du hoffst, dass du mehr wie ich sein kannst, die perfekte Maske des Ichs, das du innerlich, aber nicht nach außen bist.
Du bist nicht wie ich. Aber ich bin halb wie du. Zum Schluss steht nur ein halbes Ende.

Freitag, 21. August 2009

Halbundhalbmensch

Es gibt ziemlich viele Menschen, die alle zwei Seelen haben, zwei Wesen in sich, in ihnen ist Göttliches und Teuflisches, ist mütterliches und väterliches Blut, ist Glücksfähigkeit und Leidensfähigkeit ebenso feindlich und verworren neben- und ineinander vorhanden, wie Wolf und Mensch. Und diese Menschen, deren Leben ein sehr unruhiges ist, erleben zuweilen in ihren seltenen Glücksaugenblicken so Starkes und unnennbar Schönes, der Schaum des Augenblicksglückes spritzt zuweilen so hoch und blendend über das Meer des Leides hinaus, dass dies kurze aufleuchtende Glück ausstrahlend auch andere berührt und bezaubert. So entstehen, als kostbarer flüchtiger Glücksschaum über dem Meer des Leides, alle jene Kunstwerke, in welchen ein einzelner leidender Mensch sich für eine Stunde so hoch über sein eigenes Schicksal erhob, dass sein Glück wie ein Stern strahlt und allen denen, die es sehen, wie etwas Ewiges und wie ihr eigener Glückstraum erscheint. Alle diese Menschen, mögen ihre Taten und Werke heißen wie sie wollen, haben eigentlich überhaupt kein Leben, das heißt, ihr Leben ist kein Sein, hat keine Gestalt, sie sind nicht Helden oder Künstler oder Denker in der Art, wie andere Richter, Ärzte, Schuhmacher oder Lehrer sind, sondern ihr Leben ist eine ewige, leidvolle Bewegung und Brandung, ist unglücklich und schmerzvoll zerrissen und ist schauerlich und sinnlos, sobald man den Sinn nicht in ebenjenen seltenen Erlebnissen, Taten, Gedanken und Werken zu sehen bereit ist, die über dem Chaos eines solchen Lebens aufstrahlen. Unter den Menschen dieser Art ist der gefährliche und schreckliche Gedanke entstanden, dass vielleicht das ganze Menschenleben nur ein arger Irrtum, eine heftige und missglückte Fehlgeburt der Urmutter, ein wilder und grausig fehlgeschlagener Versuch der Natur sei. Unter ihnen ist aber auch der andere Gedanke entstanden, dass der Mensch vielleicht nicht bloß ein halbwegs vernünftiges Tier, sondern ein Götterkind und zur Unsterblichkeit bestimmt sei.
Der Steppenwolf von Hermann Hesse

Mittwoch, 19. August 2009

Das Bildnis des Mr. W. H.

Aus welchem Stoff, woraus schuf dich Natur,
Dass tausend fremde Schatten sich dir weihen?
Hat jeder hier doch einen einzgen nur,
Und du kannst alle, alle Schatten leihen.
William Shakespeare

Die Schminke braucht sich nicht zu verbergen,
Sie muss nicht vermeiden, dass man sie erahnt;
Sie mag sich im Gegenteil zur Schau stellen
- wenn schon nicht geziert, so doch ganz offen.
Charles Baudelaire

Ein Zugeständnis an jeden Schatten, jeden Schauspieler, der die Wahrheit so perfekt zu verschleiern vermag.

Das Bildnis des Mr. W. H.
Wer war Mr. W. H., dem Shakespeare seine berühmten Sonette widmete? Wer der hübsche junge Mann, der in den meisten der Gedichte angesprochen wird? Cyril Graham, der Held in Oscar Wildes Geschichte, meint das Rätsel gelöst zu haben. Allein ein handfester Beweis fehlt ihm noch.
Wildes virtuose Geschichte einer Obsession ist zugleich ein amüsantes Verwirrspiel über Kunst und Leben.
"Alle bezaubernden Leute sind verdorben. Es ist das Geheimnis ihres Reizes."
"Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach."
"Es ist stets töricht, Ratschläge zu geben, aber gute Ratschläge zu geben ist absolut verhängnisvoll."
"Eine Sache muss nicht unbedingt wahr sein, nur weil ein Mensch für sie stirbt."
"Für seine religiöse Überzeugung zu sterben ist der schlechteste Gebrauch, den ein Mensch von seinem Leben machen kann."
"Entsprang die Tragödie nicht den Leiden des Dionysos? Wurde nicht das unbeschwerte Lachen der Komödie mit ihrer sorglosen Fröhlichkeit und ihren munteren Entgegnungen zuerst von den Lippen sizilianischer Weingärtner vernommen? Ja, gab nicht das Purpur und Rot des Weinschaums auf Gesicht und Gliedern die erste Andeutung vom Reiz und Zauber der Verkleidung - zeigte sich so nicht in den ungeschickten Anfängen der Kunst die Sehnsucht, sein Ich zu verbergen, das Gefühl für den Wert der unpersönlichen Darstellung?"
"Vielleicht hat man, wenn man den vollendeten Ausdruck für eine Leidenschaft findet, die Leidenschaft selbst erschöpft. Gefühlskräfte haben wie die physischen Kräfte ihre vorgeschriebenen Grenzen. Vielleicht geht Hand in Hand mit dem bloßen Versuch, jemanden zu einer Theorie zu bekehren, eine Art Verzicht auf die Glaubensfähigkeit. Vielleicht ist man der ganzen Sache dann einfach müde, und da die Begeisterung ausgebrannt ist, bleibt die Vernunft ihrem eigenen leidenschaftslosen Urteil überlassen."
Oscar Wilde

Dienstag, 11. August 2009

"Du willst Kira töten?"

Kashino: "Sie haben dich also entlassen..."
Makio: "Nun, vorläufig schon, wie es aussieht. Aber solche Läden gibt's sowieso nur der Form halber... Du kommst rein und wenn du wieder rauskommst, hat sich nicht viel getan. Aber das weißt du ja selbst am besten, nicht wahr?"
Kashino: (Pause.) "Ich war neulich in der Psychiatrie."
Makio: "Ja, ich hab dich dort zufällig im Park gesehen. Aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du wieder in Behandlung musst?"
Kashino: "Aber nein... Ich habe einen Arzt besucht, den ich von früher kenne."
Makio: (Pause.) "Ja, ich dachte mir das schon... Wäre ja auch seltsam, wenn einer, der kurz vor seiner Hochzeit steht..."
Kashino: "Woher weißt du davon?"
Makio: (Lachen.) "Hör mal, so viel bekomme selbst ich noch mit. An jeder Ecke hört man Gerüchte über euch. Und selbst ich habe so meine Freunde..." (Lächeln.) "Du willst schon wieder etwas ganz für dich haben. Trotz dieser Erfahrung damals... Was passiert, wenn du es auch diesmal wieder verlierst? Zum zweiten Mal, das wird eine bittere Pille für dich."
Kashino: (Pause.) "Du willst Kira töten?"
Makio: "Tja, was könnte ich mit Verlieren wohl meinen?"
Kashino: "Wenn ich Kira verlieren würde... müsste ich dich wohl töten. Egal, ob das ein Fehler wäre oder nicht. Egal, wie lange es dauern würde oder welche Mittel dazu nötig wären. Es würde zu meinem Lebenszweck werden. Allerdings... was wohl danach käme? Wenn ich Kira verloren und dich getötet hätte. Selbst wenn ich weiterleben könnte, würde ich meines Lebens... wohl nicht mehr froh." (Lachen.) "Nicht mehr froh? Das sagt sich so leicht..."
Makio: "Was gibt's da so blöd zu kichern, Kashino? Was soll das, hier den coolen Erwachsenen zu spielen, der über allem steht?"
Kashino: (Pause.) "Ich will hier nicht den Erwachsenen spielen. Ich stehe auch ganz und gar nicht über der Sache. Aber egal, was mir passiert, und egal, was ich tue... es wäre eine Tatsache, vor der ich nicht weglaufen könnte. Auch wenn ich es ignorieren würde. Auch wenn ich anderen die Schuld gäbe und mich an meiner Umgebung abreagieren würde. Wenn ich abends allein im Bett liege und die Augen schließe, würde es mich überkommen. Dieses Gefühl, ohnmächtig zu sein..."
Makio: "Hör jetzt auf! Was ist denn mit dir los?! Wieso redest ausgerechnet du so ein Zeug?! Du warst doch früher auch nicht so drauf! Was soll dieses altmodische moralische Getue?!"
Stimme im Hintergrund: "Wenn du berühmt werden willst, musst du einen umbringen..." (Kashino und Makio sich umwendend, unbemerkt zuhörend.) "Na ja, es ist nicht besonders originell, aber... mit 'nem Mord geht's nun mal am schnellsten. Dein Gesicht dürfen sie auch nicht zeigen. Also wenn, dann müsste man's bald tun. Bevor unsere Zeit abläuft*, sozusagen." (Lachen.)
Makio: "Wie will der Kerl berühmt werden, wenn keiner seinen Namen und sein Gesicht kennt? Diese Durchschnittsidioten finde ich am schlimmsten, Kashino. Es ist schon widerlich, dass sie die gleiche Luft atmen wie man selbst. Aber wirklich unerträglich ist... dass solche Typen das gleiche Recht auf Leben haben wie man selbst. Egal, wie widerlich und überflüssig die sind, wenn du einen umbringst, bist du ein Verbrecher. In so einer Welt leben zu müssen... ist an sich schon unerträglich."
Kashino: "Seltsam, Makio... ich dachte immer, dass du alle Menschen außer dir selbst für Müll und Abschaum hältst. Dann versteh ich eins nicht... Irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese dummen Kerle mit ihrem dummen Geschwätz dich eben ganz schön beeindruckt haben." (Pause.) "Bist halt doch ein armes Schwein, Makio."
Makio: (Kashino wütend Wasser ins Gesicht schüttend.) "Mich beeindruckt, sagst du?! Diese Typen?! Mich?! Du meinst, dass solche Kerle mir überlegen sind?! Dass ich ein armes Schwein bin?!" (Schreiend.) "So etwas muss ich mir von dir nicht bieten lassen!"
Kashino: (Pause.) "Sieh mal an... du kannst ja richtig laut werden." (Pause.) "Jetzt hast du mich zum ersten Mal an einen Menschen erinnert."
Mars von Fuyumi Soryo

* Kinder unter 14 Jahren sind in Japan nicht strafmündig.

Donnerstag, 30. Juli 2009

Das Fundament der Wissenschaft

Im Aufbau der Wissenschaft gilt das heraklitische Wort, dass der Weg nach oben und der Weg nach unten derselbe ist. Je höher das Gebäude der Wissenschaft wächst und je freier es sich in die Lüfte erhebt, umso mehr bedarf es der Prüfung und der ständigen Erneuerung seiner Grundlagen. Dem Zustrom neuer Tatsachen muss die Tieferlegung der Fundamente entsprechen, die zum Wesen jeder Wissenschaft gehört. Ist dem so, so ist klar, dass und warum die Arbeit an der Auffindung und Sicherung der Prinzipien den Einzelwissenschaften nicht abgenommen und auf eine besondere philosophische Disziplin, auf die Erkenntnistheorie oder Methodenlehre, übertragen werden kann.
Ernst Cassirer

Sonntag, 26. Juli 2009

Übernahme des Tons

Weil man wohl oder übel den gegebenen Ton übernimmt; weil man sich beim Eintritt in die Gesellschaft, gewohnheitsgemäß schon an der Zimmertür, bis hin zum Gesichtsausdruck auf diejenigen einstellt, die man sieht; man macht Scherze, wenn man traurig ist, man spielt den Traurigen, wenn man lieber scherzen würde; wovon immer die Rede sein mag, man will mitreden; und ob nun der Literat politisiert, der Politiker metaphysiziert, der Metaphysiker moralisiert, der Moralist über Finanzen redet, der Finanzier über Literatur oder Geometrie - jeder, anstatt zuzuhören oder zu schweigen, schwatzt über das, was er nicht weiß, und alle langweilen sich aus dummer Eitelkeit oder Höflichkeit.
Denis Diderot

Montag, 13. Juli 2009

Einen Menschen umzubringen ist einfach

"Sie tun ja immer noch fünf Löffel Zucker rein."
"Natürlich. Sonst schmeckt der Kaffee ja gar nicht. Du wusstest von mir, oder?"
"Ohne Zweifel waren Sie ein professioneller Killer. Und zwar einer der absolut besten."
"Was meinst du, wie viele Menschen ich schon getötet habe? Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht mehr. Es war für mich nichts Besonderes. Ich tat nur meinen Job.
An dem einen Tag habe ich mich wie immer einfach nur auf mein Ziel konzentriert. Ich weiß nicht mehr, der wie vielte Auftrag das schon war. Ein Café am helllichten Tag. Es lief wie immer. Er bestellte Kaffee. Dann streute er sich Zucker rein. Erst einen Löffel, dann zwei, dann drei, dann vier... nach dem fünften Löffel hatte ich plötzlich den Geschmack des Kaffees, den ich sonst immer trank, in meinem Mund. Es sah aus, als würde ihm der Kaffee sehr gut schmecken. In dem Moment ließ ich mein Gewehr los. Das war alles. Wegen sowas konnte ich keine Menschen mehr umbringen.
Einen Menschen umzubringen ist einfach. Man muss nur vergessen, wie der Zucker schmeckt."
Monster von Naoki Urasawa

Dienstag, 30. Juni 2009

Rittlings über dem Grabe geboren

"Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages bin ich blind geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick, genügt Ihnen das nicht? Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht."

"Habe ich geschlafen, während die anderen litten? Schlafe ich gar in diesem Augenblick? Wenn ich morgen glaube, wach zu werden, was werde ich dann von diesem Tag sagen? Was wird wahr sein von alledem? Rittlings über dem Grabe und eine schwere Geburt. Aus der Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die Zange an. Man hat Zeit genug, um alt zu werden. Die Luft ist voll von unseren Schreien. Aber die Gewohnheit ist eine mächtige Sordine. Auch mich, auch mich betrachtet ein anderer, der sich sagt, er schläft, er weiß von nichts, lass ihn schlafen. Ich kann nicht mehr weiter."
Warten auf Godot von Samuel Beckett

Mittwoch, 24. Juni 2009

Schubladendenken


Und dann werden wieder Schubladen gefordert. "Schubladen, Schubladen", brüllen sie auf den Straßen, machen Fackelzüge durch Innenstädte, kloppen auf Trommeln und brüllen: "Schubladen, Schubladen". Zumachbare, geschlossene, solche, in die man bequem Kinderhände quetschen kann, wenn sie nach karieserzeugendem Süßkram langen, die dicken, bereits im Kindergartenalter verbitterten Biester. Menschen halten ja so gerne fest an dieser Schubladenromantik, denken immer "was draufsteht, ist drin" und so. Auch wenn auf der Lade ein Aufkleber mit der Aufschrift "Subkultureller Individualist" klebt, dann kann ein Typ drin sein, der so sehr auf Archivierung steht, dass er selbst zu einer geworden ist. Und in der Lade mit der "bequemen Kleidung", da ist ja auch meistens die Zwangsjacke drin. Ich plädiere hier nochmal für das undramatische Verbrennen von Schubladen. Die Dinger stören Abläufe, das Auf- und Zumachen ist Zeitverlust.
Dirk Bernemann

Mittwoch, 10. Juni 2009

Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod

Die Erzählung wiegt den in Kauf genommenen Tod auf.
Dieses Thema des Erzählens oder des Schreibens, das dazu bestimmt ist, den Tod zu bannen, hat in unserer Kultur eine Metamorphose erfahren.
Das Schreiben ist heute an das Opfer gebunden, sogar an das Opfer des Lebens, an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es sich im Leben des Schriftstellers selbst vollzieht. Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen.
Die Beziehung des Schreibens zum Tod zeigt sich auch im Verblassen der individuellen Züge des schreibenden Subjekts. Durch alle Barrieren, die das schreibende Objekt zwischen sich und dem, was es schreibt, errichtet, bringt es alle Zeichen seiner individuellen Besonderheit durcheinander. Das Merkmal des Schriftstellers besteht nur noch in der Eigentümlichkeit seiner Abwesenheit. Er muss die Rolle des Toten im Spiel des Schreibens einnehmen.
Michel Foucault

Sonntag, 7. Juni 2009

Elle me ne regarde pas

Die Geschichte ist wahr. Sie stammt aus der Zeit meiner, ich würde sagen, meiner Zwanzigerjahre - ich hatte damals, als junger Intellektueller, natürlich nichts Besseres zu tun als rauszugehen und mich irgendeiner Tätigkeit hinzugeben, die nur direkt und ländlich sein sollte, also zum Beispiel Jagd oder Fischen. Eines Tages nun war ich auf einem kleinen Boot zusammen mit einigen Leuten aus einer Fischersfamilie, die an dem kleinen Hafen zu Hause war. Damals war unsere Bretagne noch unberührt von der Großindustrie, und Fischerei im großen Stil gab es noch nicht. Die Fischer fischten in ihrer Nussschale auf eigenes Risiko und eigene Gefahr. Und eben dieses: Gefahr und Risiko wollte ich mit ihnen teilen. Nur gab es Gefahr nicht immer, es gab auch Tage schönsten Wetters. Eines Tags nun, wir warteten auf den Augenblick, wo die Netze eingeholt werden sollten, zeigt mir ein gewisser Petit-Jean, wir nennen ihn so - er ist mit seiner ganzen Familie dann plötzlich von der Tuberkulose dahingerafft worden, die damals tatsächlich so etwas wie die Krankheit einer ganzen Sozialschicht war - eines Tags also zeigt mir Petit-Jean ein Etwas, das auf den Wellen dahinschaukelte. Es war eine kleine Büchse, genauer gesagt: eine Sardinenbüchse, ausgerechnet. Da schwamm sie also in der Sonne, als Zeuge der Konservenindustrie, die wir ja beliefern sollten. Spiegelte in der Sonne. Und Petit-Jean meinte:
Siehst du die Büchse? Siehst du sie? Sie, sie sieht dich nicht!
Er fand sie sehr lustig, die kleine Geschichte, ich weniger. Ich habe mich gefragt, warum ich sie weniger komisch fand. Das ist sehr aufschlussreich.
Zunächst, wenn es einen Sinn haben soll, dass Petit-Jean mir sagt, dass die Büchse mich nicht sehe, so deshalb, weil sie in einem bestimmten Sinn mich tatsächlich anblickt, angeht.* Sie blickt mich an auf der Ebene des Lichtpunktes, wo alles ist, was mich angeht, und das ist hier durchaus nicht als Metapher gemeint.
Was erklärt die Bedeutung dieser kleinen Geschichte, die ich dem Einfall des Gefährten verdanke, und was erklärt, dass er sie so komisch fand und ich weniger? Die Geschichte ist mir erzählt worden, weil ich in dem Moment damals - so wie ich mich geschildert habe zusammen mit diesen Leuten, die so schwer für ihre Existenz zu schuften hatten in fortgesetztem Kampf gegen etwas, was für sie rohe Natur hieß - weil ich damals also ein unsäglich komisches Bild gemacht haben muss. Oder vielmehr: Ich fiel aus dem Bild heraus, ich machte mehr oder weniger einen Fleck im Bild.** Und weil mir das bewusst ist, kann nichts mich bei dieser komischen, ironischen Geschichte, die ich mich jetzt hervorbringen höre, davon abbringen, sie wenig komisch zu finden.
Jacques Lacan
* Elle me regarde: Der Doppelsinn des Französischen "sie blickt mich an" und "sie geht mich an"
** Je faisais tant soit peu tache

Sonntag, 31. Mai 2009

Das Land der Menschen

Niemand kann sich erinnern, dass diese Erde einst unter einer dicken Eisschicht verborgen war. Aber tief in jeder Seele gibt es eine leise Stimme, die noch von der Kälte erzählt, vom Schnee und von Sonnenstrahlen, die sich im Eis zu bunten Lichtfontänen brechen. In den Herzen tragen auch die Menschen hier einen winzigen Klumpen vom ewigen Eis. Deshalb verspüren sie eine Sehnsucht nach dem Weiß, nach Sauberkeit und Stille. Niemand versteht diese Sehnsucht, aber alle kennen sie. In jedem Jahr muss es Winter werden, damit das Stück Erinnerung zum Leben erwacht und die Menschen glücklich sind. Sie brauchen den Winter.
Juli Zeh

Samstag, 9. Mai 2009

Atmen

Jemand muss atmen

Stefan Kalbers schickt seinen Protagonisten scheinbar ziellos durch die kalte, herzlose Welt, die um ihn herum in sich zusammenfällt. Er rutscht ab, gerät auf die schiefe Bahn und scheint unrettbar verloren, ist immer im falschen Moment am falschen Ort, an sich ein netter Kerl, aber ein Verlierer - und am Ende steht lediglich die Erkenntnis: Jemand muss atmen.

Und ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Jeden Tag mache ich weiter und beginne wieder von vorn. Aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz.
Ich weiß nicht, wovon andere Menschen träumen. Doch in meinen Träumen bewege ich mich stets durch ein dunkles, kaltes All. Geräuschlos, unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben, gleiche ich einem leeren Gefäß, ohne Emotion, ohne einen klaren Gedanken in mir zu tragen.
Es gibt nur das Bewusstsein dafür, anwesend zu sein, und meine Augen, an denen alles, was geblieben ist, vorüberzieht. Namenlose Planeten verglühen, schicken ihr Licht wie eine Botschaft durch den Raum. Empfänger unbekannt. Diesen Träumen liegt eine tiefe Sehnsucht nach Frieden und Ruhe zugrunde. Schicht um Schicht gilt es, meine Einsamkeit aufzugraben, bis die Schaufel am Grund der Wahrheit zerbricht.
 
Der wahre Horrortrip war immer der Alltag. Diese unabwendbare Abfolge nicht enden wollender Banalitäten. Horror war, sich in einen festen Tagesablauf pressen lassen zu müssen. Horror, das war der Druck, sich durch irgendeine aufgezwängte Tätigkeit den Lebensunterhalt verdienen zu müssen, niemals genügend Schlaf zu bekommen und sich jeden Tag, immer aufs Neue, gehetzt und getrieben zu fühlen. Horror, das waren die Nachbarn, die einen grüßten, der Geruch von Putzmittel im Treppenhaus und ein Blick in das Gesicht des Vermieters, der drängende Fragen stellte. Horror, das war das Vergehen der Zeit, die Wiederkehr eines Geburtstages, ein weiteres Weihnachten, Silvester, Ostern. Horror, das war der Lärm der Straße, die Masse an glücklosen, dumpfen Menschen um mich herum. Menschen - sie waren überall.
Man konnte ihnen nicht entkommen. In der Wohnung über mir, neben mir, unter mir. Ihre Stimmen waren da, ihre Sprache, das Dröhnen des Fernsehers, das Klingeln des Telefons, die Türen, die ständig auf- und zugingen. Horror, das war die Erkenntnis, dass selbst enge Freunde die eigenen Gedankengänge nicht mehr nachvollziehen konnten. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir gewünscht, unsichtbar zu sein und möglichst früh zu sterben.
Ich war noch immer hier.
Horror, das war ein nüchterner Kopf ohne die Möglichkeit, sich zu berauschen. Ich wollte aufhören zu denken, aufhören zu fühlen. Ich wollte aufhören.
Atmen - Jemand muss atmen! von Stefan Kalbers

Samstag, 25. April 2009

Alice, wer bist du denn dann?

Wie verquer doch heute alles geht! Und dabei war gestern noch alles wie gewöhnlich. Ob ich am Ende heute Nacht ausgewechselt worden bin? Also, wie steht es damit - war ich heute morgen beim Aufstehen noch dieselbe? Mir ist es doch fast, als wäre ich mir da ein wenig anders vorgekommen. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich denn dann?
Lewis Caroll

Dienstag, 21. April 2009

Luzifer - Träger des Lichts

Chronos ist die Zeit. Die Zeit ist aller Dinge Herrscher. Chronos ist das unentrinnbare Schicksal, überall und immer. Chronos weiß, wie das Universum enden wird, sieht seinen eigenen Abgang. Deinen. Meinen. Und tut nichts, als die Uhren am Ticken zu halten.
Im Himmel, der Raum der Uhren. Ein Raum, erfüllt vom Ticken. Die Wände, die Decke, der riesige Boden sind bedeckt mit Uhren, Sonnenuhren, Stundengläsern, Kerzen jeder Art... Wenn diese Uhren stillstehen, wird Chronos tot sein. Wenn sie gegen den Uhrzeigersinn zu laufen beginnen...
Wenn sie gegen den Uhrzeigersinn zu laufen beginnen, wird Uranos König sein. Und wenn sie völlig aufhören zu gehen, dann deshalb, weil wir alle auf einen einzigen Punkt der Existenz zusammengedrängt sein werden. Nicht lebendig, nicht tot, nur da. In Uranos. Für alle Ewigkeit.
Spürst du meinen Puls?
Das ist ein Zeichen des Lebens. Mit jedem Herzschlag zehre ich die Existenz von Chronos ein wenig weiter auf, stehle ein wenig von seinem Leben. Doch jedermann tut das, und das Leben der Zeit ist Tausend, Millionen, Milliarden Mal größer als das Universum. Aber wenn Uranos sich der Zeit bemächtigen würde, gäbe es keinen Pulsschlag mehr. So wie wir vom Leben der Zeit zehren, wenn das Herz in vollkommenem Rhythmus mit dem Takt der Uhren schlägt, so zehrt Uranos von unserem Leben. Er wird uns reduzieren auf den winzigsten Gedanken, den kleinsten Funken, den unsere Seelen hervorbringen können. Uranos ist das einzige Wesen im Universum, das nicht von der Zeit zehrt, sondern von jenem Teil des Universums, der zeitlos ist. Er ist Nicht-Leben, Nicht-Tod, er ist eine sehr, sehr einfache Art von Existenz; auf einen einzigen Punkt konzentriert, geht er nirgendwohin, verändert sich nie.
Es gibt Dinge, die außerhalb der Zeit liegen. Ideen sind zeitlos. Der menschliche Hass vor tausend Jahren ist derselbe wie der menschliche Hass heute. Dasselbe gilt für die Liebe. Dasselbe für das Mitgefühl. Für den Neid. Erinnerungen sind zeitlos - entweder man hat sie oder nicht. Uranos zehrt von diesen Erinnerungen, bis ihre Besitzer zu nichts geschrumpft sind. Uranos zehrt von diesen Ideen, bis alles, was bleibt, die nackten Knochen desjenigen sind, der diese Dinge fühlt. Wo Chronos das Leben und die Zukunft gibt, nimmt Uranos die Seele und die Vergangenheit und friert alles in sich ein. Unter Uranos gäbe es keinen Tod. Aber auch kein Leben.
Catherine Webb

Mittwoch, 8. April 2009

Die Leiden der Tugend

Das sollte die Hauptaufgabe der Philosophie sein: die Mittel und Wege zu erforschen, deren sich das Schicksal zur Erreichung seiner Ziele bedient. Daraus müsste sie dann Verhaltensmaßregeln für den armseligen Zweifüßler, Mensch genannt, herleiten, dass er auf seinem dornenvollen Pfade nicht immer abhängig sei von den bizarren Launen jener dunklen Macht, die man nacheinander Bestimmung, Gott, Vorsehung, Zufall getauft hat.
Wenn wir nun bei solchen Studien finden, dass die Bösen für ihre Missetaten Lohn statt Strafe ernten, werden da nicht Menschen, die von vornherein, aus Anlage oder Temperament, zum Bösen neigen, mit Recht schließen, es sei besser, sich dem Laster offen zu weihen, als ihm zu widerstreben - entgegen unseren lächerlichen, abergläubischen, unnützen Moralgesetzen? Werden sie nicht mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass die Tugend, wenn sie zu schwach ist, gegen das Laster anzukämpfen, gewiss nicht die Partei ist, zu der man sich schlagen soll, und dass man in einer so verderbten Zeit wie der unseren nichts Besseres tun kann, als so zu sein wie alle anderen?
Werden sie nicht aber vor allem sagen, dass, wenn Tugend und Laster gleichermaßen in den Absichten der Natur liegen und wir das Laster immer triumphieren, die Tugend immer unterliegen sehen, es klar zutage liegt, auf welcher Seite wir zu kämpfen haben?
Es wird Zeit, dass die Dummköpfe einmal aufhören, jenes Idol einer lächerlichen "Tugend" anzubeten, die ihnen nur mit Undank lohnt, und dass andererseits die Verständigen sich sicherer fühlen, wenn sie einmal deutlich sehen, wie Glück und Wohlfahrt dem Laster mit fast unumstößlicher Sicherheit folgt.
Marquis de Sade

Dienstag, 31. März 2009

Was ist Realismus?

Der Alptraum des Realisten
Was wäre, wenn wir eine Theorie akzeptierten, nach der Elektronen so etwas wie Phlogiston* sind?
Wir müssten dann sagen, dass Elektronen in Wirklichkeit gar nicht existierten. Und wenn uns dies ständig passierte? Was wäre, wenn alle von einer Generation postulierten theoretischen Entitäten (Moleküle, Gene, etc., wie die Elektronen) ständig aus der Sicht der späteren Wissenschaft "nicht existierten"? Es handelt sich hierbei natürlich um eine Variante des alten skeptischen "Arguments von der Täuschung". Woher weißt du, dass du dich nicht gerade jetzt täuschst? Aber in dieser Form ist das Argument von der Täuschung für viele Zeitgenossen ein ernstes Problem und nicht bloß ein "philosophischer Zweifel".
Einer der Gründe hierfür ist, dass die folgende Metainduktion am Ende völlig zwingend wird:
Wie kein einziger der Ausdrücke, die vor fünfzig Jahren in der Wissenschaft gebraucht wurden, sich auf etwas bezog, so wird sich herausstellen, dass keiner der Ausdrücke, die sie heute verwendet (mit Ausnahme vielleicht von Beobachtungstermini, wenn es solche gibt), sich auf etwas bezieht.

Hilary Putnam

* Vor der Entdeckung des Sauerstoffs glaubte man, Feuer und Verbrennung sei auf den Stoff Phlogiston zurückzuführen, der in jedem Material zu einem bestimmten Teil vorhanden sei.